Entscheidungsstichwort (Thema)
Schwerbehindertenrecht. Merkzeichen aG. Nichtanwendbarkeit des Teils D der Anlage zu § 2 VersMedV. Maßgeblichkeit straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften. Gleichstellung mit den in Abschn 2 Nr 1 zu § 46 Nr 11 StVOVwV genannten Personen. Stabilisierung der Gehfähigkeit durch Hilfsmittel. Unbeachtlichkeit der zumutbaren Wegstrecke. große Anstrengung. Erforderlichkeit fremder Hilfe. psychogene Einflüsse auf das Gehvermögen. Poliomyelitits. Außergewöhnliche Gehbehinderung. Rechtsgrundlage zum Erlass einer Verordnung über Nachteilsausgleiche. Prothetische Versorgung
Orientierungssatz
1. Aufgrund der fehlenden Ermächtigungsgrundlage des Verordnungsgebers für die Regelung der Voraussetzungen des Merkzeichens aG (außergewöhnliche Gehbehinderung) in der Anlage zu § 2 VersMedV sind für die Zuerkennung des Merkzeichens aG nicht die dortigen Bestimmungen, sondern allein die Vorschriften des SGB 9, der Schwerbehindertenausweisverordnung (juris: SchwbAwV) sowie die hierzu zulässig anzuwendenden Verwaltungsvorschriften maßgebend.
2. Hiernach ist zumindest erforderlich, dass der Betroffene mit den Personen gleichgestellt werden kann, die in Abschn 2 Nr 1 zu § 46 Nr 11 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zur Straßenverkehrs-Ordnung (juris: StVOVwV) genannt werden. Eine Gleichstellung setzt jedoch voraus, dass die Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt ist und sich der Betroffene nur unter ebenso großen Anstrengungen wie die dort aufgeführten schwerbehinderten Menschen oder nur noch mit fremder Hilfe fortbewegen kann (hier verneint bei einer Stabilisierung der Gehfähigkeit durch einen Schienenhülsenapparat).
3. Es ist zu beachten, dass die maßgebenden straßenverkehrsrechtlichen Vorschriften nicht darauf abstellen, auf welche Wegstrecke ein schwerbehinderter Mensch sich außerhalb seines Kraftfahrzeugs zumutbar noch bewegen kann, sondern darauf, unter welchen Bedingungen ihm dies nur noch möglich ist: nämlich nur noch mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung
4. Aus Funktionsstörungen, die das Gehvermögen nicht oder nur peripher einschränken (hier psychogene Einflüsse), kann eine außergewöhnliche Gehbehinderung nicht abgeleitet werden.
Normenkette
SGB IX § 69 Abs. 1 S. 5, Abs. 4; SchwbAwV § 1 Abs. 4, § 3 Abs. 1 Nr. 1; BVG § 30 Abs. 16; VersMedV § 2; StVO § 46 Abs. 1 Nr. 11
Nachgehend
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Heilbronn vom 14. November 2011 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist das Vorliegen der gesundheitlichen Merkmale für die Inanspruchnahme des Nachteilsausgleichs (Merkzeichen) außergewöhnliche Gehbehinderung (“aG„) streitig.
Der 1959 geborene Kläger erkrankte als Kind an Kinderlähmung. Bei ihm stellte das Landratsamt L. (LRA) auf den Antrag des Klägers auf Erhöhung des Grades der Behinderung (GdB) mit Bescheid vom 10.05.2010 wegen einer Teillähmung des rechten Beinnervengeflechts, eines Beckenschadens und einer Funktionsbehinderung des linken Hüftgelenks (Teil-GdB 60), degenerativer Veränderungen der Wirbelsäule, Nervenwurzelreizerscheinungen und eines chronischen Schmerzsyndroms (Teil-GdB 30) sowie einer Depression (Teil-GdB 30) den GdB mit 90 neu sowie die Merkzeichen “G„ und “B„ weiterhin fest.
Gegen den Bescheid vom 10.05.2010 legte der Kläger durch seine Prozessbevollmächtigten Widerspruch ein und machte zur Begründung am 02.07.2010 einen Anspruch auf Zuerkennung des Merkzeichens “aG„ geltend. Das LRA wertete dieses Begehren als Antrag auf Feststellung des Merkzeichens “aG„. Es zog medizinische Unterlagen bei (Befundbericht Dr. L. vom 23.09.2010 und Ärztlicher Entlassungsbericht der S. Kliniken GmbH vom 16.09.2008). Nach Einholung der gutachtlichen Stellungnahme des Ärztlichen Dienstes, Dr. Bo. , vom 31.10.2010, in der die Voraussetzungen für das Merkzeichen “aG„ verneint wurden, lehnte das LRA mit Bescheid vom 10.11.2010 die Feststellung des Merkzeichens “aG„ ab.
Gegen den Bescheid vom 10.11.2010 legte der Kläger durch seine Prozessbevollmächtigten am 07.12.2010 Widerspruch ein. Er machte geltend, aufgrund der Folgen der Kinderlähmung sei er außergewöhnlich gehbehindert. Ohne Hilfsmittel wie eine Orthese und Gehstützen könne er sich nur hüpfend auf einem Bein fortbewegen. Der Kläger bezog sich auf eine Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 10.12.2002.
Mit Widerspruchsbescheid vom 20.01.2011 wies das Regierungspräsidium Stuttgart - Landesversorgungsamt - den Widerspruch des Klägers gegen den Bescheid vom 10.11.2010 zurück. Zur Begründung wurde ausgeführt, die Auswertung der ärztlichen Unterlagen habe ergeben, dass der Kläger nicht dem in der Verwaltungsvorschrift zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 der Straßenverkehrsordnung genannten Personenkreis zugeordnet werden und diesem Personenkreis auch nicht gleichgestellt werden könne. Dem erheblich eingeschränkten Gehvermögen mit d...