Entscheidungsstichwort (Thema)
Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit. eingeschränktes Sehvermögen. Wegeunfähigkeit
Leitsatz (amtlich)
Wer aufgrund eines eingeschränkten Sehvermögens die üblichen Wegstrecken (vgl BSG vom 12.12.2011 - B 13 R 21/10 R) nur unter einer besonderen Gefahr zurücklegen kann, ist erwerbsgemindert (vgl BSG vom 12.12.2006 - B 13 R 27/06 R = SozR 4-2600 § 43 Nr 10).
Tenor
Auf die Anschlussberufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Karlsruhe vom 26. Mai 2014 abgeändert und die Beklagte verurteilt, dem Kläger bereits ab 1. Dezember 2011 Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Dauer zu gewähren. Die Berufung der Beklagten wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers für beide Rechtszüge zu erstatten.
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung bereits ab 1. Dezember 2011 anstatt der mittlerweile ab 1. Januar 2013 bewilligten Rente wegen voller Erwerbsminderung.
Der 1956 geborene Kläger absolvierte eine Ausbildung zum Rundfunk- und Fernsehtechniker sowie zum Staatlich geprüften Heimerzieher. Zuletzt war er als Erzieher versicherungspflichtig beschäftigt. Seit 10. Mai 2010 war er wegen erneuter depressiver Symptomatik (s. Berichte der A. K. O. vom 28. April 2008 und 18. November 2010) arbeitsunfähig erkrankt und erhielt ab 21. Juni 2010 Krankengeld. Ab 25. Oktober 2011 bezog der Kläger Arbeitslosengeld. Im November 2011 kam es zu einer Entzündung des Sehnervenkopfes an beiden Augen (Papillitis), die vom 18. bis 26. November 2011 im Städtischen Klinikum K. stationär behandelt wurde. Die Goldmann-Gesichtsfelduntersuchung ergab ein eingeschränktes Gesichtsfeld beidseits (siehe Bericht des Städtischen Klinikums K. vom 29. Dezember 2011, Bl. 299 ff. der Verwaltungsakten der Beklagten). Mit Bescheid des Landratsamtes K. vom 8. Mai 2012 wurde ein Grad der Behinderung von 100 sowie die Merkzeichen GB und RF anerkannt.
Nachdem der Arbeitgeber - die Stadt K. - dem Kläger mit Schreiben vom 10. Januar 2012 empfohlen hatte, einen Rentenantrag zu stellen, kam der Kläger dem am 31. Januar 2012 nach. Die Beklagte veranlasste eine Begutachtung durch den Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. B. Dieser stellte in seinem Gutachten vom 16. März 2012 beim Kläger einen Zustand nach beidseitiger Papillitis, psychopathische Persönlichkeitszüge, eine Alkoholabhängigkeit mit seit 2008 andauernder Karenz sowie eine Internet- und Sexsucht fest. Der Kläger könne noch leichte bis mittelschwere Tätigkeiten unter Beachtung qualitativer Einschränkung vollschichtig ausüben.
Der Arzt für Orthopädie Dr. M. diagnostizierte im Gutachten vom 17. März 2012 ein chronisches LWS-, HWS- und BWS-Syndrom, ein Impingement- und Supraspinatussyndrom der Schulter sowie eine beidseitige Gonarthrose. Der Kläger könne noch leichte körperliche Tätigkeiten mit qualitativen Einschränkungen sechs Stunden und mehr täglich ausüben.
Der Arzt für Innere Medizin und Sozialmedizin L. stellte beim Kläger in seinem zusammenfassenden Gutachten vom 2. April 2012 fest, der Kläger könne seine zuletzt ausgeübte Tätigkeit als Erzieher nur noch unter drei Stunden täglich ausüben. Leichte Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes seien unter Beachtung qualitativer Einschränkungen jedoch noch sechs Stunden und mehr täglich zu verrichten.
Mit Bescheid vom 5. April 2012 lehnte die Beklagte den Rentenantrag ab, da der Kläger Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes vollschichtig verrichten könne. Hiergegen erhob der Kläger am 24. April 2012 Widerspruch. Er machte einen qualifizierten Berufsschutz geltend. Aufgrund der Sehminderung seien ihm Tätigkeiten nicht mehr möglich. Die Beklagte veranlasste eine Begutachtung durch die Augenärztin Dr. S. In ihrem Gutachten vom 14. Juli 2012 diagnostizierte sie beim Kläger eine partielle postneuritische Optikusatrophie, eine Myopie sowie eine Presbyopie mit geringem Astigmatismus. Der Kläger könne seinen bisherigen Beruf nur noch unter dreistündig täglich ausüben. Auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt bestünde ein vollschichtiges Leistungsvermögen. Tätigkeiten mit hohen Sehanforderungen könnten nicht verrichtet werden. Der Kläger sei nicht fahrtüchtig.
Mit Widerspruchsbescheid vom 28. August 2012 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Der Kläger sei auch nicht berufsunfähig, da er auf die Tätigkeit des Poststellenmitarbeiters zumutbar verwiesen werden könne.
Der Kläger hat am 5. Oktober 2012 Klage zum Sozialgericht Karlsruhe (SG) erhoben. Im Hinblick auf die seit Jahren chronifizierte psychische Gesamtsituation sei durch das Hinzutreten der Augenerkrankung eine Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt wie auch eine Verweisungstätigkeit nicht mehr zu leisten. Das SG hat von den behandelnden Ärzten schriftliche sachverständige Zeugenaussagen eingeholt. Der Arzt für Orthopädie Dr. F. hat ausgesagt, der Kläger könne körperlich leichte und nervlich wenig belastende Tätigkeiten mindestens sechs Stunden täglich verrichten. Der Augenarzt Dr. T. hat mit...