Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Arzneimittelversorgung mit Cannabisblüten. kein Vorliegen einer schwerwiegenden Erkrankung iSd § 31 Abs 6 SGB 5 allein aufgrund einer Diagnose. ADHS. Fehlen einer Standardtherapie. Grundsätze zur evidenzbasierten Medizin. begründete Einschätzung des Vertragsarztes. vermeintliche Tablettenphobie
Leitsatz (amtlich)
1. Ob eine ADHS eine schwerwiegende Erkrankung iSd § 31 Abs 6 SGB V ist (hier verneint), hängt vom Ausmaß der hierdurch hervorgerufenen Beeinträchtigungen ab.
2. Für die nach § 31 Abs 6 Satz 1 Nr 1 Buchst a SGB V erforderliche Beurteilung, ob eine dem medizinischen Standard entsprechende Leistung zur Verfügung steht, ist auf die Grundsätze zur evidenzbasierten Medizin abzustellen.
3. Die nach § 31 Abs 6 Satz 1 Nr 1 Buchst b SGB V erforderliche begründete Einschätzung des behandelnden Vertragsarztes ist unzureichend, wenn dieser maßgeblich auf eine vom Versicherten entwickelte "Abneigung gegen jegliche Einnahme von Tabletten" abstellt, die im Wesentlichen nur auf den anamnestischen Angaben des Versicherten beruht.
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Mannheim vom 11.11.2021 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
Streitig ist die Versorgung mit Cannabisblüten bzw die Erstattung hierfür bereits angefallener Kosten.
Der 1985 geborene und bei der Beklagten krankenversicherte Kläger leidet seit seiner Kindheit an einer Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Mit 13 Jahren setzte er die Behandlung mit Ritalin ab und raucht seitdem Cannabis. Mit Schreiben vom 19.05.2020 beantragte er bei der Beklagten unter Vorlage einer Stellungnahme des behandelnden H die Kostenübernahme für eine Behandlung mit Cannabisblüten. Der H führte aus, behandelt werden sollten die ADHS sowie eine mittlere Depression. Es liege eine schwerwiegende Erkrankung vor, und ohne die bereits durchgeführte fortlaufende Therapie mit Cannabis wäre die Bewältigung des Alltags nicht möglich. Durch die Therapie würden die Symptome stark gelindert und träten bei regelmäßiger Einnahme selten bis gar nicht auf. Neben der Cannabis-Therapie werde eine Gesprächstherapie durchgeführt. Der Kläger leide bereits seit einem Alter von 7 Jahren unter ADHS und habe durch die Zwangseinnahme von Ritalin eine Abneigung gegen jegliche Einnahme von Tabletten entwickelt. Beigefügt war ein Bericht des M über eine einmalige Untersuchung am 21.05.2019, wonach eine psychotische Symptomatik oder andere Kontraindikationen nicht bestünden und aus nervenärztlicher Sicht die Behandlung mit Cannabis befürwortet werde. Der Kläger profitiere von Cannabis die letzten 20 Jahre. Das Problem sei nur die Illegalität seiner Therapie, die ihn in diesem Jahr alleine schon 3.000 € gekostet habe. Zudem legte der Kläger zwei Privatverordnungen des H vom 04.05.2020 sowie 25.02.2020 vor.
Die Beklagte veranlasste beim Medizinischen Dienst der Krankenversicherung Baden-Württemberg (MDK) die Erstellung eines Gutachtens nach Aktenlage, worin K am 28.05.2020 die Voraussetzungen für die Kostenübernahme ablehnte. Es fehle bereits an einer schwerwiegenden Erkrankung. Nach der aktuellen, interdisziplinären, nationalen S3-Leitlinie „Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter“ solle Cannabis nicht zur Behandlung eingesetzt werden. Aus der medizinischen Literatur ergebe sich bei Abwägung der schwachen Evidenz für eine Reduktion der ADHS-Kernsymptome gegen die hierunter zu erwartenden Nebenwirkungen keine nicht ganz entfernt liegende Aussicht darauf, dass Cannabinoide den Krankheitsverlauf bzw die Symptomatik spürbar positiv beeinflussen können. Eine durchgehende engmaschige fachärztliche, medizinische oder therapeutische Betreuung wegen ADHS erfolge nicht. Der Kläger sei auf weitere verfügbare leitliniengerechte psychopharmakologische sowie auf psychotherapeutische Therapien zu verweisen.
Mit Bescheid vom 03.06.2020 lehnte die Beklagte den Antrag auf Kostenübernahme unter Bezugnahme auf das Gutachten des MDK ab. Dagegen erhob der Kläger am 04.09.2020 Widerspruch, ohne diesen in der Folgezeit zu begründen. Mit Widerspruchsbescheid vom 30.11.2020 wies die Beklagte den Widerspruch daher zurück.
Hiergegen hat der Kläger am 09.12.2020 Klage zum Sozialgericht Mannheim (SG) erhoben. Er leide an ADHS und an einer mittelschweren Depression. Dabei handele es sich um eine schwerwiegende Erkrankung, die ärztlicher und psychotherapeutischer Behandlung bedürfe und gegebenenfalls eine lebensbedrohliche Verschlimmerung, eine Verminderung der Lebenserwartung und eine dauernde Minderung der Lebensqualität erwarten lasse. Ohne Behandlung bzw fortlaufende Therapie wäre ihm die Bewältigung des Alltags nicht möglich.
Das SG hat zunächst die Entbindungserklärung von der ärztlichen Schweigepflicht eingeholt und anschließend den einzigen dort benannten behandelnden H als sachverständigen Zeugen vernommen. Dieser hat u...