Entscheidungsstichwort (Thema)

Grundsicherung für Arbeitsuchende. Einkommensberücksichtigung. Absetzung von tatsächlichen Unterhaltszahlungen bei Unterhaltstitel. Herbeiführung von Hilfebedürftigkeit. gesteigerte Unterhaltspflicht gegenüber minderjährigem Kind. Umfang der Selbsthilfeverpflichtung. Unterhaltsurkunde des Jugendamtes als Unterhaltstitel

 

Leitsatz (amtlich)

1. § 11 Abs 2 S 1 Nr 7 SGB 2 über die Absetzung von Aufwendungen zur Erfüllung titulierter gesetzlicher Unterhaltspflichten vom Einkommen kann nicht dahingehend einschränkend ausgelegt werden, dass nur gepfändete oder aussichtsreich pfändbare Unterhaltstitel zu berücksichtigen sind.

2. Zahlungen eines Elternteils aufgrund eines Unterhaltstitels zugunsten eines minderjährigen Kindes sind auch dann gem § 11 Abs 2 S 1 Nr 7 SGB 2 vom Einkommen abzusetzen, wenn der Elternteil durch die Zahlung selbst hilfebedürftig wird, weil ihm der aufgrund dieses Titels geleistete Betrag nicht mehr als "bereites Mittel" iS des Sozialhilferechts zur Verfügung steht.

3. Von einer Absetzung der Unterhaltszahlungen vom Einkommen kann in diesem Fall auch nicht allein unter dem Gesichtspunkt unterlassener Selbsthilfe (§ 2 SGB 2) mit der Begründung abgesehen werden, der Leistungsempfänger habe nicht auf eine Abänderung seines Unterhaltstitels hingewirkt. § 2 SGB 2 enthält insoweit keine durchsetzbaren Rechtspflichten, sondern Obliegenheiten, deren Verletzung lediglich leistungsrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen kann, die speziell und abschließend in §§ 31, 32 SGB 2 geregelt sind.

 

Orientierungssatz

Vollstreckbare Urkunden des Jugendamtes über die Verpflichtung zur Erfüllung von Unterhaltsansprüchen von Kindern vor Vollendung des 21. Lebensjahres gem § 60 SGB 8 iVm § 59 Abs 1 S 1 Nr 3 SGB 8 stellen Unterhaltstitel iS des § 11 Abs 2 S 1 Nr 7 SGB 2 dar.

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 09.11.2010; Aktenzeichen B 4 AS 78/10 R)

 

Tenor

Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Freiburg vom 16. Oktober 2009 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten in beiden Rechtszügen zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Anrechnung von Einkommen bei Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).

Der am … 1969 geborene Kläger bezieht seit dem 17. März 2006 laufende Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Mit Bescheid vom 4. Oktober 2007 bewilligte ihm die Beklagte Leistungen für die Zeit vom 1. Oktober 2007 bis 31. März 2008 i.H.v. monatlich 592,56 € (Regelleistung i.H.v. 347,00 € und Kosten der Unterkunft i.H.v. 245,56 €). Seit dem 29. Januar 2008 ist er geschieden; sein am 5. Mai 1998 geborener Sohn P. Ph. lebt bei seiner geschiedenen Ehefrau in K.. Am 24. Januar 2008 schloss der Kläger einen Arbeitsvertrag über eine Teilzeitbeschäftigung bei einer Privatschule in H. ab dem 1. März 2008. Seine monatlichen Einkünfte beliefen sich im streitgegenständlichen Zeitraum auf 600,00 € brutto und 496,47 € netto. Anlässlich seines am 31. März 2008 gestellten Antrags auf Fortzahlung der Leistungen nach dem SGB II legte der Kläger die von ihm am 29. Februar 2008 beim Jugendamt des Landkreises Breisgau-Hochschwarzwald unterzeichnete Unterhaltsurkunde zugunsten seines Sohnes vor. In dieser Urkunde hatte sich der Kläger unter anderem verpflichtet, diesem vom 1. März bis 31. Dezember 2008 Unterhalt i.H.v. monatlich 245,00 € zu bezahlen. Zugleich hatte er sich der sofortigen Zwangsvollstreckung unterworfen.

Mit Änderungsbescheid vom 4. April 2008 berechnete die Beklagte ihre Leistungen für die Zeit vom 1. bis zum 31. März 2008 neu und bewilligte Leistungen i.H.v. insgesamt 353,62 € (108,06 € zur Sicherung des Lebensunterhalts und 245,56 € für Unterkunft und Heizung). Die Neuberechnung wurde damit begründet, dass der Kläger eine Arbeit aufgenommen habe. Nach Berücksichtigung verschiedener Absetzungsbeträge legte die Beklagte ein Einkommen i.H.v. 238,94 € zugrunde. Die Unterhaltsverpflichtung des Klägers sei jedoch nicht einkommensmindernd zu berücksichtigen, weil dieser unterhaltsrechtlich nicht leistungsfähig sei. Der Kläger könne insoweit eine Herabsetzung des Unterhalts auf “Null„ beantragen.

Mit weiterem Bescheid vom gleichen Tag bewilligte die Beklagte für die Zeit vom 1. April bis zum 30. September 2008 monatliche Leistungen i.H.v. 353,62 € (wie bereits für März 2008 berechnet). Auch hier berücksichtigte sie die monatlichen Unterhaltszahlungen an das Kind des Klägers nicht.

Gegen diese Bescheide legte der Kläger jeweils am 30. April 2008 Widerspruch unter anderem mit der Begründung ein, der Kindesunterhalt i.H.v. 245,00 € monatlich sei vom Einkommen abzusetzen. Es komme nicht darauf an, ob eine Leistungsfähigkeit im unterhaltsrechtlichen Sinn vorliege.

Mit Widerspruchsbescheid vom 27. Mai 2008 wies die Beklagte die Widersprüche des Klägers unter anderem mit der Begründung zurück, die Unterhaltsleistungen seien nicht absetzbar, weil ...

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