Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. rückwirkende Beendigung einer freiwilligen Mitgliedschaft. Beginn der Beitrittsfrist nach § 9 Abs 2 Nr 1 SGB 5. fehlender Hinweis der Krankenkasse auf die Fristenregelung. sozialrechtlicher Herstellungsanspruch
Leitsatz (amtlich)
1. Bei einer rückwirkenden Beendigung einer freiwilligen Mitgliedschaft ist die Regelung des § 9 Abs 2 Nr 1 SGB V in der Form anzuwenden, dass die Beitrittsfrist von drei Monaten erst mit Bekanntgabe des entsprechenden Bescheids beginnt und nicht bereits mit dem in der Vergangenheit liegenden Zeitpunkt des tatsächlichen Endes der Mitgliedschaft.
2. Weist die Krankenkasse in einem solchen Fall den Versicherten nicht auf die Fristenregelung des § 9 Abs 2 Nr 1 SGB V hin, ist der Versicherte im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs so zu stellen, als ob er fristgerecht den Beitritt zur freiwilligen Versicherung angezeigt hätte.
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Heilbronn vom 21. Februar 2020 aufgehoben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheids vom 22. November 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 13. September 2017 verurteilt, den Bescheid vom 8. August 2016 insoweit zurückzunehmen, als sie die Durchführung einer freiwilligen Mitgliedschaft der Klägerin ab 1. Juli 2015 ablehnte.
Es wird festgestellt, dass die Klägerin ab 1. Juli 2015 freiwillig versichertes Mitglied der Beklagten ist.
Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin in beiden Rechtszügen.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Klägerin seit 1. Juli 2015 (freiwilliges) Mitglied der Beklagten ist.
Die 1957 geborene Klägerin siedelte im Jahr 2007 aus Rumänien kommend in die Bundesrepublik Deutschland über. Sie bezog ab 18. März 2009 Arbeitslosengeld II nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) und war hierdurch bei der Beklagten pflichtversichert. Ein im Jahr 2015 bei der Deutschen Rentenversicherung Baden-Württemberg (DRV BW) gestellter Antrag der Klägerin auf Gewährung von Rente wegen Erwerbsminderung blieb erfolglos. Die Klägerin wurde zwar für voll erwerbsgemindert erachtet, jedoch erfüllte sie nicht die Wartezeit für die Gewährung einer entsprechenden Rente.
Mit Bescheid vom 18. Juni 2015 bewilligte die Beigeladene zu 1 (Fachbereich Sozialhilfe) der Klägerin daraufhin rückwirkend ab 1. November 2014 (zunächst bis 31. Oktober 2015) Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Vierten Kapitel des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XII) und teilte der Klägerin gleichzeitig mit, dass die Zahlung für den Zeitraum 1. November 2014 bis 30. Juni 2015 an das Jobcenter geleistet werde, das einen Erstattungsanspruch angemeldet habe.
Mit Bescheid vom 14. Juli 2016 wandte sich die Beklagte an die Klägerin und teilte mit, dass sie „auch nach Beendigung der Kranken- und Pflegeversicherung ab 01.11.2014 automatisch von einem optimalen Versicherungsschutz“ bei ihr profitiere, und führte weiter aus, gesetzlich dazu verpflichtet zu sein, die Versicherung auf der Basis der Beitragsbemessungsgrenze weiterzuführen, solange sie die Höhe der tatsächlichen Einnahmen nicht kenne, weshalb sie die beigefügten Einkommensfragebögen ausfüllen möge; die Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung setzte sie insgesamt mit monatlich 745,81 € fest. Für die Zeit vom 1. November 2014 bis 30. Juni 2016 errechnete sie einen Betrag von insgesamt 14.530,62 €, den die Klägerin bis spätestens 28. Juli 2016 überweisen möge. Mit Schreiben vom 22. Juli 2016 wandte sich die Beklagte darüber hinaus an die Beigeladene zu 1. Sie teilte mit, dass die Klägerin seit 1. November 2014 als freiwilliges Mitglied bei ihr versichert sei und bat um Übersendung der Sozialhilfebescheide mit den Berechnungsgrundlagen sowie um Rücksendung der ausgefüllten „Übernahmeerklärung“. Die Beigeladene zu 1 übersandte der Beklagten sodann den erwähnten Bescheid vom 18. Juni 2015 sowie die Bescheide vom 19. Oktober 2015 und 23. November 2015 (Bewilligung vom Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung vom 1. bis 30. November 2015 bzw. vom 1. Dezember 2015 bis 31. Oktober 2016) und erklärte sich bereit, die Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge ab Beginn der Mitgliedschaft (1. November 2014) zu tragen.
Mit Bescheid vom 8. August 2016 führte die Beklagte gegenüber der Klägerin aus, ihre ursprüngliche Versicherung habe geendet. Um ihren Versicherungsschutz sicherzustellen, habe sie - die Beklagte - ab 1. November 2014 eine neue Versicherung, eine obligatorische Anschlussversicherung, durchgeführt. Nach sorgfältiger Prüfung habe sie nun festgestellt, dass sie - die Klägerin - nicht ihr Mitglied werden könne. Personen, die u.a. Leistungen nach dem SGB II bezögen oder Empfänger laufender Leistungen nach dem Dritten, Vierten, Sechsten oder Siebten Kapitel des SGB XII seien, seien nicht versicherungspflichtig nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (SGB V) und auch eine obligatorische Anschlussversicherung nach § 188...