Entscheidungsstichwort (Thema)
Rückwirkende Aufhebung eines Bescheides über die Gewährung einer Witwenrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung wegen unterbliebener Anrechnung einer Altersrente. Angabe der Versicherten über den Bezug der Witwenrente im Antrag auf Altersrente. keine erneute Mitteilung an den Rentenversicherungsträger über den Bezug der Altersrente. identischer Rentenversicherungsträger der Altersrente und der Witwenrente. Verweis in § 48 Abs 4 SGB 10 auf § 45 Abs 3 S 4 SGB 10
Leitsatz (amtlich)
Es ist nicht grob fahrlässig, wenn die Versicherte, nachdem sie bei ihrem Antrag auf Altersrente die vom selben Rentenversicherungsträger bezogene Witwenrente angegeben hatte, nach Bewilligung der Altersrente diesen Bezug dem für die Witwenrente zuständigen Dezernat nicht mitteilt (Anschluss an LSG Stuttgart vom 17.5.2018 - L 10 R 3025/17).
Orientierungssatz
1. Der Verweis in § 48 Abs 4 SGB 10 auf § 45 Abs 3 S 4 SGB 10 hat als Rechtsgrundverweisung zur Folge, dass eine Aufhebung des Bescheides nach Ablauf der 10-Jahres-Frist nicht nur dann erfolgen kann, wenn entweder ein Widerrufsvorbehalt vorliegt, der Verwaltungsakt auf vorsätzlich bzw grob fahrlässigen unrichtigen/unvollständigen Angaben beruht oder aber der Begünstigte die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte bzw grob fahrlässig nicht kannte, sondern auch, wenn ein anderes unredliches ("bösgläubiges") Verhalten des Betroffenen vorliegt (vgl BSG vom 1.7.2010 - B 13 R 77/09 R = SozR 4-1300 § 48 Nr 18).
2. Im Rahmen der Prüfung des § 48 SGB 10 bedeutet unredliches Verhalten hierbei solches nach § 48 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 10 und § 48 Abs 1 S 2 Nr 4 SGB 10, während das bloße Erzielen von Einkommen oder Vermögen iS des § 48 Abs 1 S 2 Nr 3 SGB 10 nicht ausreicht.
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 05.12.2022 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt auch die außergerichtlichen Kosten der Klägerin im Berufungsverfahren.
Tatbestand
Streitig ist die rückwirkende Anrechnung einer Altersrente auf die Witwenrente für die Zeit vom 01.10.1993 bis 31.10.2021 und die Erstattung der entsprechenden Überzahlung.
Die in O1 geborene Klägerin, die den Beruf einer Bürokauffrau erlernte und zuletzt bis zum 30.06.1984 (vgl. Versicherungsverlauf Bl. 55 ff. Senatsakte) als Sekretärin in einer Bank beschäftigt war, ist Witwe des geborenen und am verstorbenen K1. Am 30.01.1992 beantragte sie bei der Beklagten die Gewährung einer Witwenrente. Mit Bescheid vom 22.04.1992 (Bl. 46 SG-Akte) gewährte die Beklagte der Klägerin ab dem 01.02.1992 eine große Witwenrente in Höhe von anfangs monatlich 964,86 DM (brutto; Zahlbetrag: 906,01 DM). In diesem Bescheid wurde die Klägerin auf ihre Mitteilungspflichten hingewiesen und es wurde dargelegt „Erwerbseinkommen und Erwerbsersatzeinkommen können Einfluss auf die Rentenhöhe haben. Daher besteht die gesetzliche Verpflichtung, uns den Bezug, das Hinzutreten oder die Veränderung von Erwerbseinkommen, das sind Arbeitsentgelt, Einkommen aus selbstständiger Tätigkeit, vergleichbares Einkommen oder von Erwerbsersatzeinkommen unverzüglich mitzuteilen. Erwerbseinkommen sind, auch als Kapitalleistung oder Abfindung, folgende Leistungen: ... Versichertenrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung, ... Die Meldung von Veränderungen erübrigt sich bei Einkommen aus einer in der Bundesrepublik Deutschland ausgeübten versicherten Beschäftigung oder Tätigkeit oder bei Renten aus der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung..." Hinsichtlich des vollständigen Wortlauts wird auf den Bescheid Bezug genommen.
Etwa ein Jahr später, nämlich am 04.05.1993, beantragte die Klägerin die Gewährung von Altersrente für Frauen, die ihr die Beklagte mit Bescheid vom 09.07.1993 (Bl. 42 SG-Akte) ab dem 01.10.1993 in Höhe von zunächst monatlich 1.607,09 DM (brutto; Zahlbetrag: 1.499,42 DM) bewilligte und monatlich auf dasselbe Konto überwies wie die Witwenrente. Ob die Klägerin bei der Stellung dieses Antrags auf Altersrente den Bezug der Witwenrente angegeben hat, lässt sich nicht mehr feststellen, da die Akte vernichtet und nur ein Teil der Akte (ohne den Antrag) mikroverfilmt wurde. Eine Mitteilung dieses Rentenbezuges an die für die Hinterbliebenenrente zuständige Abteilung der Beklagten unter der Versicherungsnummer des Verstorbenen, unter der die Witwenrente bewilligt wurde, erfolgte nicht, die Altersrente wurde deshalb nicht auf die Witwenrente angerechnet.
Im September 2021 erhielt das für die Gewährung der Witwenrente zuständige Dezernat Kenntnis von der gezahlten Altersrente mit den entsprechenden Brutto- und Nettobeträgen. Nach Anhörung der Klägerin vom 28.10.2021 führte die Beklagte mit Bescheid vom 23.11.2021 eine Neuberechnung der großen Witwenrente ab dem 01.10.1993 durch (Anrechnungsbeträge zwischen 43,26 DM ab 01.10.1993 und zuletzt 68,74 € ab 01.07.2021). Zugleich hob sie den Rentenbescheid vom 22.04.1992 hinsichtlich der Rentenhöhe mit Wirkung ab dem 01.10.1993 nach § 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X)...