Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Berufung. Zurückverweisung. wesentlicher Verfahrensmangel. Gerichtsbescheid vor Ablauf einer vom Sozialgericht für die Benennung eines bestimmten Arztes und Einzahlung des Kostenvorschusses gesetzten Frist. Verzicht auf erneute Anhörung. Nichtvorliegen der Voraussetzungen des § 105 Abs 1 SGG. Notwendigkeit einer umfangreichen und aufwändigen Beweisaufnahme
Leitsatz (amtlich)
1. Die Abweisung einer Klage durch Gerichtsbescheid vor Ablauf einer vom Sozialgericht selbst für die Benennung eines bestimmten Arztes und Einzahlung des Kostenvorschusses nach § 109 Abs 1 SGG gesetzten Frist stellt einen Verstoß gegen das Recht auf gutachtliche Anhörung eines bestimmten Arztes nach § 109 Abs 1 S 1 SGG und damit einen wesentlichen Verfahrensmangel iS des § 159 Abs 1 Nr 2 SGG dar.
2. Der Verzicht auf eine erneute Anhörung zur beabsichtigten Entscheidung durch Gerichtsbescheid begründet zudem einen Verstoß gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs und damit einen weiteren wesentlichen Verfahrensmangel iS des § 159 Abs 1 Nr 2 SGG.
3. Wenn ein Gericht eine Klage durch Gerichtsbescheid abweist, ohne dass die Voraussetzungen des § 105 Abs 1 SGG vorgelegen haben, so stellt dies einen Verstoß gegen den gesetzlichen Richter und damit einen weiteren wesentlichen Verfahrensmangel iS des § 159 Abs 1 Nr 2 SGG dar.
4. Eine umfangreiche und aufwändige Beweisaufnahme iS des § 159 Abs 1 Nr 2 SGG ist gegeben, wenn sie einen erheblichen Einsatz von personellen und sächlichen Mitteln erfordert; davon ist bereits auszugehen, wenn weitere Ermittlungen in der Form der Einholung zumindest einer gutachtlichen Stellungnahme geboten ist.
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Ulm vom 03.07.2023 aufgehoben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten des Berufungsverfahrens - an das Sozialgericht Ulm zurückverwiesen.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist die Feststellung des Grades der Behinderung (GdB) streitig.
Der Beklagte hatte bei der 1962 geborenen Klägerin unter Zugrundelegung einer versorgungsärztlichen Stellungnahme mit Bescheid vom 19.08.2013 den GdB mit 30 ab dem 15.05.2013 festgestellt.
Die Klägerin stellte am 13.01.2021 unter Vorlage ärztlicher Unterlagen einen Erhöhungsantrag. Daraufhin stellte der Beklagte unter Zugrundelegung einer versorgungsärztlichen Stellungnahme mit Bescheid vom 15.04.2021 den GdB mit 40 ab dem 13.01.2021 fest. Den hiergegen eingelegten Widerspruch der Klägerin wies der Beklagte unter Zugrundelegung einer weiteren versorgungsärztlichen Stellungnahme mit Widerspruchsbescheid vom 04.01.2022 zurück.
Hiergegen hat die Klägerin am 12.01.2022 Klage zum Sozialgericht (SG) Ulm erhoben.
Das SG Ulm hat K1, R1, K2 und H1 schriftlich als sachverständige Zeugen gehört. Die Klägerin hat weitere ärztliche Unterlagen vorgelegt. Der Beklagte hat unter Vorlage einer versorgungsärztlichen Stellungnahme an einem GdB von 40 festgehalten.
Das SG Ulm hat mit seinem an die Klägerin am 21.04.2023 abgesandten und auf den „14.06.2023“ datierten Schreiben eine Frist zur Stellung eines Antrages nach § 109 SGG bis zum 20.04.2023 gesetzt. Daraufhin hat die Klägerin mit Schreiben vom 21.04.2023 um Klarstellung gebeten, ob hier eventuell das Datum des Schreibens mit dem Datum der Frist vertauscht worden sei. Sodann hat das SG Ulm mit Schreiben vom 21.04.2023 ausgeführt, es handele sich tatsächlich um ein Versehen des Gerichts, bei der Erstellung des „Schreibens vom 20.04.23“ sei das Datum vertauscht worden. Mit Schreiben vom 25.05.2023 hat das SG Ulm ausgeführt, das Gericht habe die Absicht, nach § 105 Abs. 1 Satz 1 SGG ohne mündliche Verhandlung und ohne Mitwirkung ehrenamtlicher Richter durch Gerichtsbescheid zu entscheiden, da die Sache nach vorläufiger Prüfung der Sach- und Rechtslage keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweise und der Sachverhalt geklärt sei. Die Klägerin erhalte Gelegenheit, sich zu der beabsichtigten Verfahrensweise zu äußern. Eine Entscheidung werde nicht vor dem 03.07.2023 ergehen. Daraufhin hat die Klägerin mit Schreiben vom 14.06.2023 gemäß § 109 SGG beantragt, ein weiteres Gutachten einzuholen. Das Gutachten sei auf die Bereiche Rheumatologie und Psychiatrie zu erstrecken. Die Benennung der Gutachter sowie die Kostenerklärung würden nachgereicht. Insoweit werde vorsorglich um Fristverlängerung gebeten. Schon jetzt werde aber mitgeteilt, dass die Deckungszusage einer Rechtsschutzversicherung für dieses weitere Gutachten bestehe. Das SG Ulm hat sodann mit Schreiben vom 15.06.2023 ausgeführt, die mit „Verfügung vom 20.04.2023“ gesetzte Frist werde antragsgemäß bis zum 14.07.2023 verlängert.
Das SG Ulm hat mit Gerichtsbescheid vom 03.07.2023 ohne mündliche Verhandlung und ohne Mitwirkung ehrenamtlicher Richter die Klage abgewiesen. Das Gericht könne vorliegend ohne mündliche Verhandlung nach § 105 Abs. 1 Satz 1 SGG durch Gerichtsbescheid entscheiden, d...