Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. häusliche Krankenpflege. Begleitung eines an Diabetes erkrankten Grundschulkindes beim Schulbesuch. Zuständigkeit der Krankenversicherung
Leitsatz (amtlich)
Die allein wegen einer Diabetes-Erkrankung benötigte Begleitung eines Grundschulkindes beim Schulbesuch fällt in den Zuständigkeitsbereich der Krankenversicherung.
Tenor
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 20.07.2021 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat auch die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen.
Tatbestand
Der Kläger begehrt von der Beklagten die Freistellung von Kosten für eine Assistenzkraft während des Schulbesuchs im Schuljahr 2020/2021.
Der 2013 geborene Kläger ist familienversichertes Mitglied der Beklagten. Er leidet an einem insulinpflichtigen Diabetes mellitus Typ 1 und ist mit einer Insulinpumpe versorgt. Bei ihm ist ein Grad der Behinderung (GdB) von 50 sowie das Merkzeichen H anerkannt. Seit dem 13.09.2018 gewährt die bei der Beklagten errichtete Pflegekasse Pflegegeld nach Pflegegrad 2.
Der Kläger besuchte bis zum 31.08.2020 die Tageseinrichtung für Kinder in der Fstraße in S, zu deren Besuch ihm die Beigeladene vom 01.07.2017 bis 31.08.2020 Eingliederungshilfe in Höhe von zuletzt monatlich 1.131,00 € gewährte. Die Beklagte gewährte ebenfalls seit dem 01.07.2017 Leistungen im Rahmen der häuslichen Krankenpflege im Umfang von drei Mal täglich Blutzuckermessung und Insulingabe während des Kindergartenbesuchs des Klägers.
Am 07.02.2020 beantragte der Kläger bei der Beigeladenen die Kostenübernahme für eine Eingliederungshilfe zum Besuch der E Gesamtschule ab September 2020. Seinem Antrag fügte er eine Stellungnahme der künftigen Schule sowie einen Arztbrief des H des Ohospitals S, vom 02.12.2019 bei. Die Beigeladene leitete diesen Antrag mit Schreiben vom 12.02.2020 an die Beklagte weiter, weil sie sich nicht für zuständig hielt. Der Antrag ging bei der Beklagten am 18.02.2020 ein.
Im Anschluss daran beauftragte die Beklagte den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) mit der Erstattung eines Gutachtens. In diesem kam B (Gutachten vom 02.03.2020) zu dem Ergebnis, dass bei dem Kläger auch in der Schule die Blutzuckerwerte regelmäßig gemessen werden müssten und er abhängig von den Werten zusätzlich weitere Insulineinheiten über die Insulinpumpe benötige, eine permanente Interventionsbereitschaft aus vitaler Sicht sei aber nicht erforderlich.
Mit Bescheid vom 12.03.2020 lehnte die Beklagte unter Bezugnahme auf die Ausführungen des MDK den Antrag des Klägers ab. Leistungen für den Schulbesuch psychomotorisch altersgerecht entwickelter Kinder mit insulinpflichtigem Diabetes mellitus könnten von den Landratsämtern im Rahmen der Eingliederungshilfe für einen angemessenen Schulbesuch übernommen werden. Eine Kostenübernahme im Rahmen der häuslichen Krankenpflege könne nicht erfolgen.
Hiergegen legte der Kläger am 24.03.2020 Widerspruch ein. Zur Begründung führte er aus, es sei rätselhaft, wie der MDK zu der Einschätzung gelange, dass er seine Vitalfunktionen selbstständig überwachen könne. Er benötige permanente Beobachtung, da er nicht selbstständig wahrnehme, wenn er in Unterzucker gerate. Im Kindergarten sei es immer wieder zu schwierigen Situationen aufgrund von Unterzuckerung gekommen. Er benötige Überwachung und Unterstützung beim Bedienen der Pumpe, ansonsten sei ein Schulbesuch nicht möglich.
Mit Widerspruchsbescheid vom 22.06.2020 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Es bestehe weder ein Anspruch auf häusliche Krankenpflege im Sinne von Krankenbeobachtung während des Schulbesuches (Behandlungspflege) zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung, noch ein Anspruch auf Leistungen der Eingliederungshilfe. Obwohl der Kläger infolge seines Dia-betes mellitus Typ 1 zu den Menschen mit Behinderung gehöre, sei seine Fähigkeit, an der Gesellschaft teilzuhaben, konkret am Besuch an einer Schule, nicht eingeschränkt. Zwar bestehe ein insulinpflichtiger Diabetes mellitus, zu Entgleisungen des Blutzuckers sei es in den letzten Jahren jedoch nicht gekommen. Kontrollmaßnahmen könnten vom Lehrpersonal der Grundschule vorgenommen werden, ebenso könne die Aufnahme und der Zeitpunkt der Nahrungsaufnahme durch die Schulkräfte beobachtet und ggf. gesteuert werden.
Am 21.07.2020 hat der Kläger Klage zum Sozialgericht Stuttgart (SG) erhoben und zudem einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz (S 23 KR 2965/20 ER) gestellt. Eine Schulbegleitung sei dringend erforderlich, da er nicht mit seiner Insulinpumpe zurechtkomme. Ein Gespräch mit der Schule habe bereits ergeben, dass eine Überwachung und Bedienung der Insulinpumpe sowie die notwendige Dosisanpassung durch die Lehrerin nicht übernommen werden könne. Daher sei die Beklagte zu verpflichten, die Kosten für eine medizinisch geschulte Begleitung des Klägers für den Besuch der E Gemeinschaftsschule in S montags bis donnerstags von 8:00 Uhr bis 15:00 Uhr und freitags von 8:00 Uhr bis 12:45 Uhr als Leistungen de...