Leitsatz (amtlich)

1. Zur unbefristeten Ausstellung eines Schwerbehindertenausweises.

2. Bei psychischen Erkrankungen ist eine Besserung des Gesundheitszustandes nicht auf Dauer gänzlich ausgeschlossen, weswegen in solchen Fällen grundsätzlich kein atypischer Fall vorliegt, der zu einer unbefristeten Ausstellung eines Schwerbehindertenausweises führen kann.

 

Tenor

Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Freiburg vom 09.05.2023 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt die unbefristete Ausstellung eines Schwerbehindertenausweises.

Bei der 1963 geborenen und in F1 wohnenden Klägerin stellte das Landratsamt B1 (LRA) mit Bescheid vom 14.03.2019 ein Grad der Behinderung (GdB) von 70 seit 28.08.2018 bei folgenden Funktionseinschränkungen fest: Depression, Verhaltensstörungen, Migräne (Teil-GdB 50), Gebrauchseinschränkung beider Füße, Krampfadern (Teil-GdB 20), degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, Funktionsbehinderung der Wirbelsäule (Teil-GdB 20) sowie Allergie (Teil-GdB 10). Am 27.03.2019 wurde der Klägerin ein Ausweis als Nachweis der Schwerbehinderteneigenschaft ausgehändigt, dessen Gültigkeitsdauer bis zum 30.04.2021 befristet war.

Am 09.06.2020 stellte die Klägerin einen Neufeststellungsantrag. Sie leide an einer anhaltenden schweren Zwangsstörung mit schwerer Beeinträchtigung des Alltags und hohem Leidensdruck. Die Zwangshandlungen und Zwangsgedanken hätten sich verschlimmert. Es bestehe zudem der Verdacht auf eine Autismusspektrumsstörung. Das LRA holte daraufhin Befundberichte der behandelnden Ärzte ein. Der D1 nannte am 13.09.2020 die Diagnosen vorwiegend Zwangshandlungen (Zwangsrituale), autistische Züge, DD Autismusspektrumsstörung, rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelgradige bis schwere Episode, andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung, schädlicher Gebrauch von Alkohol. In einer versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 03.11.2020 wurden seelische Störung, Verhaltensstörung, Depression, Migräne mit einem Teil-GdB von 60 bei unverändertem Gesamt-GdB von 70 bewertet und eine Nachprüfung in fünf Jahren vorgeschlagen.

Mit Bescheid vom 05.11.2020 lehnte das LRA daraufhin den Antrag auf Neufeststellung ab. Dem Bescheid beigefügt war ein Ausweis als Nachweis der Schwerbehinderteneigenschaft mit dem Aufdruck „gültig bis zum 31.10.2025“.

Am 03.12.2020 legte die Klägerin Widerspruch gegen diesen Bescheid ein und bat um Übersendung der Ausweisverfügung. In ihrer Widerspruchsbegründung begehrte die Klägerin die Feststellung eines höheren GdB und die unbefristete Ausstellung des Schwerbehindertenausweises. Eine wesentliche Änderung in ihren gesundheitlichen Verhältnissen sei nicht zu erwarten. Ihre Erkrankungen hätten schon in ihrer Jugend begonnen und würden trotz medizinischer Behandlung bis heute anhalten. Nach dem gegenwärtigen Stand der Wissenschaft sei eine wesentliche Änderung in ihren gesundheitlichen Verhältnissen nicht zu erwarten. In keinem der ärztlichen Gutachten sei von einer positiven Prognose die Rede. Die Voraussetzungen des § 6 Abs. 2 Satz 2 der Schwerbehindertenausweisverordnung lägen vor. Sie habe auch ein berechtigtes Interesse an der Erteilung eines unbefristeten Schwerbehindertenausweises. Sie leide aufgrund der Zwangserkrankung an einem pathologischen Rückversicherungsbedürfnis, welches nicht nur sie, sondern auch ihre Mitmenschen massiv belaste. Einzig verbliebene Bezugsperson sei ihr ebenfalls psychisch kranker Bruder, der die Klägerin zwar unterstütze, dadurch jedoch stark belastet sei. Eine Besserung nach fast fünzigjähriger Krankengeschichte bei einer vorgesehenen Nachprüfung im Jahr 2025 mit 62 Jahren sei nicht zu erwarten.

Mit Teil-Abhilfebescheid vom 03.05.2021 stellte das LRA einen GdB von 80 ab dem 22.04.2020 fest. Dabei wurden folgende Funktionsbeeinträchtigungen berücksichtigt: Seelische Störung, Verhaltensstörungen, Depression, Migräne (Teil-GdB 70), degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, Funktionsbehinderung der Wirbelsäule (Teil-GdB 20), Gebrauchseinschränkung beider Füße, Krampfadern (Teil-GdB 10) und Allergie (Teil-GdB 10).

In einer versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 24.06.2021 wies F2 darauf hin, dass sich durch Behandlung/Psychotherapie Änderungen bei der Klägerin ergeben könnten, weshalb eine unbefristete Ausstellung des Ausweises nicht statthaft sei.

Mit Widerspruchsbescheid vom 16.09.2021 wies die Beklagte den Widerspruch im Übrigen zurück. Gemäß § 152 Abs. 5 Satz 3 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) solle die Gültigkeitsdauer des Ausweises befristet werden. Diese Soll-Vorschrift gebiete es, dass die zuständige Behörde in der Regel den Schwerbehindertenausweis mit befristeter Gültigkeit zu erteilen habe. Gemäß § 6 Abs. 2 der Schwerbehindertenausweisverordnung sei die Gültigkeit des Ausweises für die Dauer von längstens 5 Jahren vom Monat der Ausstellung zu befristen. Nur in Ausnahmefällen (sog. Atypik) könne von einer B...

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