Entscheidungsstichwort (Thema)
Arbeitslosengeld. Erstattungspflicht des Arbeitgebers. Befreiungstatbestände. Vernichtung der Leistungsakte durch die BA während des ruhenden Klageverfahrens. Untersuchungsmaxime. Pflicht der BA zur Vorlage der Original-Verwaltungsakten. Beweisanträge. keine Pflicht des Gerichts zu weiteren Ermittlungen
Orientierungssatz
1. Ob die positiven Voraussetzungen für die Pflicht des Arbeitgebers zur Erstattung des Arbeitslosengeldes gem § 128 AFG vorliegen, kann bereits offen gelassen werden, wenn sich wegen der Vernichtung der Verwaltungsakten durch die Bundesagentur für Arbeit (BA) nicht mehr hinreichend sicher klären lässt, ob die Befreiungstatbestände des § 128 Abs 1 S 2 AFG erfüllt sind.
2. § 119 SGG geht von einer prinzipiellen Vorlagepflicht der Behörden hinsichtlich ihrer Verwaltungsakten aus; durch die Vorlagepflicht wird den Anforderungen des Art 19 Abs 4 GG Rechnung getragen. Mit der Vorlagepflicht der Behörde korrespondiert das Recht der Beteiligten aus § 120 SGG, Einsicht in die Verwaltungsakten zu nehmen, welches ebenfalls das Gebot effizienten Rechtsschutzes in Art 19 Abs 4 GG gewährleisten soll und eine wesentliche Grundlage für die Wahrnehmung des Anspruchs auf rechtliches Gehör aus Art 103 Abs 1 GG darstellt. Diese verfassungsmäßigen Rechte verbieten es, vorliegend die belastenden Verwaltungsakte der BA zu bestätigen, obwohl die BA die Verwaltungsakte vernichtet hat.
3. Zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Bescheide der BA ist die vollständige Original-Verwaltungsakte notwendig. Eine wie auch immer rekonstruierte Verwaltungsakte reicht nicht aus. Daher kommt der Senat den Beweisanträgen der BA und dem hiermit verbundenen Antrag auf weitere Ermittlungen nicht nach.
Tenor
1. |
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Die Berufungen gegen die Urteile des Sozialgerichts Stuttgart vom 25.10.2007, 19.11.2007, 17.01.2008, 30.01.2008 und 21.02.2008 werden zurückgewiesen. |
2. |
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Die Beklagte hat auch die außergerichtlichen Kosten der Klägerin in den Berufungsverfahren zu erstatten. |
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist die Erstattung von Arbeitslosengeld und Beiträgen zur Sozialversicherung für frühere Arbeitnehmer der Klägerin (nachfolgend: An. 1 bis An. 7) nach § 128 AFG im Streit.
I.
Alle Sachverhalte haben gemeinsam, dass die Beklagte die Erstattungspflicht der Klägerin mit Bescheiden festgestellt hat und nunmehr - nach mehrjährigem Ruhen der erstinstanzlichen Klageverfahren wegen Musterverfahren zu § 128 AFG - die Verwaltungsakten nicht mehr vorlegen kann, weil diese vernichtet oder unauffindbar sind. Nach Stattgabe der Klagen durch das Sozialgericht Stuttgart (SG) hat die Beklagte Berufungen beim Landessozialgericht eingelegt, welche mit Beschluss vom 26.03.2008 zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung unter dem vorliegenden Aktenzeichen L 12 AL 188/08 verbunden worden sind.
Es handelt sich im Einzelnen um folgende Sachverhalte und Rechtsstreitigkeiten:
1. L 12 AL 188/08, SG-Aktenzeichen S 21 AL 182/07:
Mit Bescheid vom 04.05.1995 hat die Beklagte die Erstattungspflicht für An. 1 für die Zeit vom 02.01.1995 bis zum 31.12.1995 und für längstens 624 Tage festgestellt. Der Widerspruch der Klägerin wurde mit Widerspruchsbescheid vom 20.07.1995 zurückgewiesen. An. 1 habe keine gesundheitlichen Einschränkungen gehabt und sei während des Arbeitsverhältnisses auch nicht längere Zeit arbeitsunfähig gewesen; es sei daher ausgeschlossen, dass ein Anspruch auf eine andere Sozialleistung vorliege. Mit Folgebescheiden vom 07.08.1995 und vom 12.08.1996 forderte die Beklagte näher berechnete Erstattungsbeträge. Es ergingen weitere Folgebescheide sowie ein Ersetzungsbescheid vom 16.12.1998. Das SG hat der zu dem Aktenzeichen S 14 Ar 2951/95 erhobenen Klage nach einem mehr als zehnjährigen Ruhen unter dem Aktenzeichen S 21 AL 182/07 mit Urteil vom 19.11.2007 stattgegeben. Das SG hat den Bescheid vom 04.05.1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20.07.1995 aufgehoben und den Ersetzungsbescheid vom 16.12.1998 dahingehend abgeändert, als hierin eine Erstattungspflicht festgestellt worden ist. Außerdem hat das SG festgestellt, dass anlässlich der Auflösung des Arbeitsverhältnisses eine Erstattungspflicht nicht bestehe und etwaige anderslautende Bescheide aufgrund des Ersetzungsbescheides wirkungslos seien. Das Urteil des SG wurde der Beklagten am 04.01.2008 zugestellt. Die Beklagte hat am 11.01.2008 Berufung beim Landessozialgericht eingelegt.
2. L 12 AL 245/08, SG-Aktenzeichen S 7 AL 4423/07:
Mit Bescheid vom 15.01.1999 stellte die Beklagte die Erstattungspflicht für An. 2 für die Zeit vom 23.09.1997 bis zum 31.08.1998 festgestellt und näher beziffert. Der Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 22.02.1999 als unbegründet zurückgewiesen, da Anhaltspunkte für anderweitige Ansprüche auf Sozialleistungen nicht ersichtlich seien. Es ergingen der Folgebescheid vom 15.01.1999 sowie der weitere Widerspruchsbescheid vom 22.02.1999. Das SG hat der zum Aktenzeichen S 16 AL 1285/99 erhobenen Klage nach mehrjährigem Ruhen unter...