Entscheidungsstichwort (Thema)
Pflegeversicherung. Entrichtung des Arbeitgeberanteils. Verfassungsmäßigkeit. Gesetzgebungskompetenz des Bundes. Überschreitung
Orientierungssatz
1. Die Pflicht des Arbeitgebers zur Entrichtung des Arbeitgeberanteils zur Pflegeversicherung für die bei ihm in der gesetzlichen Krankenversicherung pflichtversicherten Beschäftigten ist rechtlich nicht zu beanstanden.
2. Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes in Art 74 Abs 1 Nr 12 GG ist nicht überschritten.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Klägerin seit 01. Januar 1995 Arbeitgeberbeiträge zur Pflegeversicherung zu leisten hat.
Fünf in der gesetzlichen Krankenversicherung pflichtversicherte Beschäftigte der Klägerin sind Mitglieder der Beklagten. Nach Inkrafttreten der Pflegeversicherung zum 01. Januar 1995 wies die Klägerin mit Beitragsnachweisung vom 13. Februar 1995 die Gesamtsozialversicherungsbeiträge für den Monat Januar 1995 nach. Darin war ein Arbeitgeberanteil zur Pflegeversicherung von DM 63,41 enthalten. Die Beiträge wurden am 15. Februar 1995 bezahlt.
Mit Schreiben vom gleichen Tage wandte sich die Klägerin "gegen die als Verwaltungsakt wirkende Selbstanmeldung für den Beitragsmonat Januar 1995" mit der Begründung, die Abführung eines Arbeitgeberanteils zur Pflegeversicherung in Höhe von DM 63,41 sei nicht rechtmäßig, da das mit der Pflegeversicherung versicherte Risiko mit dem Arbeitsverhältnis nichts zu tun habe. Die Klägerin wiederholte den Rechtsbehelf auch bezüglich der für den Beitragsmonat Februar 1995 abgeführten Arbeitgeberanteile zur Pflegeversicherung und erhielt von der Beklagten die Mitteilung, dieser gelte auch für zukünftige Beiträge.
Mit Schreiben vom 08. Mai 1995 erläuterte die Beklagte § 58 des Elften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XI) in der Fassung des Art. I des Pflegeversicherungsgesetzes vom 26. Mai 1994, in Kraft seit 01. Januar 1995. Nach dessen Abs. 1 Satz 1 tragen die nach § 20 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 versicherungspflichtig Beschäftigten, die in der gesetzlichen Krankenversicherung pflichtversichert sind, und ihre Arbeitgeber die nach dem Arbeitsentgelt zu bemessenden Beiträge jeweils zur Hälfte. Nach § 58 Abs. 2 SGB XI werden die Länder zum Ausgleich der mit den Arbeitgeberbeiträgen verbundenen Belastungen der Wirtschaft einen gesetzlichen landesweiten Feiertag, der stets auf einen Werktag fällt, aufheben. Dies sei mit Ausnahme Sachsens geschehen. Mit Bescheid vom 12. Juni 1995 half der bei der Beklagten gebildete Widerspruchsausschuß dem Widerspruch nicht ab und verwies auf die zwingende gesetzliche Regelung und die durch Beschlüsse des Landtages von Baden-Württemberg vom 12. Dezember 1994 und 23. März 1995 erfolgte Streichung eines gesetzlichen Feiertags.
Dagegen hat die Klägerin Klage zum Sozialgericht (SG) Reutlingen erhoben und im einzelnen ausgeführt, daß die Beitragspflicht des Arbeitgebers zur Pflegeversicherung verfassungswidrig sei. Die Klägerin hat zugleich beantragt, hilfsweise das Verfahren gemäß Art. 100 Abs. 1 Grundgesetz (GG) auszusetzen und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Frage der Vereinbarkeit von § 58 SGB XI mit Art. 12 Abs. 1, 14 Abs. 1 und 140 GG i.V.m. Art. 139 Weimarer Reichsverfassung (WRV) sowie mit Art. 74 Nrn. 7 und 12 GG einzuholen. Die Beklagte ist der Klage unter Vorlage ihrer Verwaltungsakte entgegengetreten.
Das SG hat mit Urteil vom 22. Mai 1997, das dem Bevollmächtigten der Klägerin am 23. September 1997 gegen Empfangsbekenntnis zugestellt wurde, die Klage abgewiesen und die Berufung zugelassen. Es hat in den Entscheidungsgründen im wesentlichen ausgeführt, gegen § 58 Abs. 1 und 2 SGB XI bestünden keine verfassungsmäßigen Bedenken. Im übrigen habe das Land Baden-Württemberg die Voraussetzungen für die hälftige Beitragstragung durch Versicherte und Arbeitgeber durch Streichung des Buß- und Bettages als gesetzlichen Feiertag geschaffen. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) habe mit Beschluß vom 18. September 1995 - 1 BvR 1496/95 (NJW 1995 S. 3378) die Streichung des Buß- und Bettages als staatlich anerkannten Feiertag für verfassungsgemäß erachtet und keinen Verstoß gegen Art. 140 GG i.V.m. Art. 139 WRV gesehen, weshalb die beantragte Beiladung der Evangelischen Landeskirche W sowie des Bistums R S entbehrlich sei. Die Finanzierung der Pflegeversicherung je zur Hälfte durch Beiträge der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber verstoße nicht gegen Art. 12 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 1 GG. Auch im Hinblick auf das spezifische Arbeitszeitsystem der Klägerin liege kein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG vor.
Mit der dagegen bereits am 05. August 1997 schriftlich beim SG Reutlingen eingelegten Berufung wiederholt die Klägerin weitgehend das bisherige Vorbringen. Bei dem Beschluß des BVerfG vom 18. September 1995 handle es sich um einen Kammerbeschluß, der nicht mit dem Beschluß eines Senats des BVerfG gleichzustellen sei. Art. 74 GG dürfe nicht im Sinn einer umfassenden Kompetenz für die soziale Sicherheit verstanden werde...