Entscheidungsstichwort (Thema)

Arbeitslosengeld II. Unionsbürger ohne materielles Aufenthaltsrecht als dem der Arbeitsuche. Leistungsausschluss. Sozialhilfe. Lebenspartnerschaft mit Unionsbürger

 

Normenkette

SGB 2 § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2

 

Verfahrensgang

SG Berlin (Beschluss vom 14.02.2022; Aktenzeichen S 149 AS 464/22 ER)

 

Tenor

Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 14. Februar 2022 geändert.

Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für die Zeit vom 26. Januar 2022 bis 31. März 2022, längstens bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache, mit der Maßgabe zu gewähren, dass der Leistungsbewilligung 80 vom Hundert des gesetzlichen Regelsatzes für Partner zugrunde zu legen sind.

Die weitergehende Beschwerde wird zurückgewiesen.

Der Antragsgegner trägt die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin im gesamten Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes.

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren wird abgelehnt.

 

Gründe

Rz. 1

Die Beschwerde der 1997 geborenen Antragstellerin ist im Wesentlichen begründet. Der Antragsgegner war im Wege einer gerichtlichen Regelungsanordnung iSv § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zu verpflichten, für die Zeit vom 26. Januar 2022 (Antragseingang) bis 31. März 2022, längstens bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache, der Antragstellerin, die die rumänische Staatsangehörigkeit besitzt, Regelleistungen im tenorierten Umfang im Rahmen der Bedarfsgemeinschaft mit ihrem nicht mit ihr verheirateten Partner F. M. und dem gemeinsamen, am 30. April 2021 geborenen Sohn S. F., zu gewähren, die beide bereits im laufenden Regelleistungsbezug des Antragsgegners seit 1. Oktober 2021 stehen. Die gerichtliche Regelungsanordnung ergeht dem Grunde nach (vgl § 130 Abs. 1 SGG analog) mit den getroffenen Maßgaben. Dies gilt indes nicht für die begehrten Regelleistungen in voller Höhe und etwaige Leistungen für Kosten der Unterkunft und Heizung (KdUH). Die insoweit weitergehende Beschwerde war ebenso zurückzuweisen wie die Beschwerde gegen die Ablehnung der Bewilligung von Prozesskostenhilfe (PKH) durch das Sozialgericht.

Rz. 2

Nach ständiger Rspr des erkennenden Senats ist in Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes der geltend gemachte Regelbedarf iSv § 20 Abs. 1 und 4 Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II) regelmäßig nur iHv 80 vH zu berücksichtigen, weil er nur in diesem Umfang unabweisbar ist (vgl Bundesverfassungsgericht ≪BVerfG≫, Beschluss vom 12. Mai 2005 – 1 BvR 569/05 – juris; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 19. Mai 2010 – L 5 AS 797/10 B ER –; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 12. September 2007 – L 20 B 75/07 SO ER –; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 29. Januar 2007 – L 7 SO 5672/06 B ER – alle juris). Soweit die Antragstellerin mit ihrem Eilrechtsantrag auch Leistungen für KdUH geltend gemacht haben sollte („in gesetzlicher Höhe”), ist ein entsprechender Bedarf weder vorgetragen worden noch aus den eingereichten Unterlagen zur Gewährung von PKH oder den vorgelegten Kontoauszügen zu ersehen. Die Regelung ergeht antragsgemäß ab Eingang des Rechtsschutzantrags (26. Januar 2022 bis längstens 31. März 2022). Der Endzeitpunkt folgt im Übrigen auch daraus, dass Gegenstand des Verfahrens (nur) der (negative) Zugunstenbescheid des Antragsgegners nach § 44 Sozialgesetzbuch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – (SGB X) bildet, mit dem der Antragsgegner die Bewilligungsentscheidung vom 11. November 2011 für die Zeit vom 1. Oktober 2021 bis 31. März 2022 überprüft hat.

Rz. 3

Die Entscheidung zum Erlass der im Tenor bezeichneten Regelungsanordnung stützt sich auf eine hier verfassungsrechtlich gebotene Folgenabwägung. Hierbei kam auch dem Umstand besondere Bedeutung zu, dass die vorläufige Regelung ohnehin nur längstens bis 31. März 2022 Bestand haben wird und eine umfassende Sachaufklärung in diesem (kurzen) Zeitraum nicht möglich ist.

Rz. 4

Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) garantiert einen effektiven und möglichst lückenlosen richterlichen Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt (vgl BVerfGE 67, 43 ≪58≫; 96, 27 ≪39≫). Wirksam ist Rechtsschutz dabei nur, wenn er innerhalb angemessener Zeit erfolgt. Daher sind die Fachgerichte gehalten, vorläufigen Rechtsschutz zu gewähren, wenn Antragstellern sonst eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung in ihren Rechten droht, die durch die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann, es sei denn, dass ausnahmsweise überwiegende, besonders gewichtige Gründe entgegenstehen (vgl BVerfGE 93, 1 ≪13 f≫; 126, 1 ≪27 f≫). Die Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes durch Art. 19 Abs. 4 GG gebietet eine Auslegung und Anwendung der die Einlegung von Rechtsbehelfen regelnden Vorschriften, die die Beschreitung des eröffneten Rechtswegs nicht in unzumutbarer, durch Sachgründe nicht mehr zu rechtfertigende...

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