Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für ausländische Staatsangehörige bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. Europarechtskonformität. Vereinbarkeit mit dem EuFürsAbk. Wirksamkeit des am 19.12.2011 erklärten Vorbehalts der Bundesregierung. Verfassungsmäßigkeit
Leitsatz (amtlich)
1. Der Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 2 ist europarechtskonform.
2. Der Vorbehalt der Bundesregierung vom 19.12.2011 in Bezug auf das EuFürsAbk unterliegt keinen rechtlichen Bedenken.
Tenor
Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 10. Mai 2012 aufgehoben und der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt.
Die Beteiligten haben einander für beide Rechtszüge keine Kosten zu erstatten.
Gründe
Die am 25. Mai 2012 eingegangene Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 10. Mai 2012 ist zulässig und begründet. Zu Unrecht hat das Sozialgericht dem Antragsteller im Wege der einstweiligen Anordnung für die Zeit vom 26. April 2012 bis zum 30. September 2012 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuches (SGB II) zugesprochen.
Der griechische Antragsteller hat keinen Anordnungsanspruch mit der für eine Vorwegnahme der Hauptsache erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit glaubhaft gemacht (§§ 86b Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes [SGG], 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung [ZPO]).
Ein Anordnungsanspruch aus den §§ 7 Abs. 1 Satz 1, 19 Abs. 1 SGB II in der seit dem 1. Januar 2011 geltenden Fassung des Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches des Sozialgesetzbuches vom 24. März 2011 (BGBl. I S. 453) scheitert bereits daran, dass der Antragsteller dem Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II unterliegt. Danach sind Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen ausgenommen. Diese Voraussetzungen sind erfüllt. Als Unionsbürger darf sich der erwerbsfähige Antragsteller gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 1 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU) zum Zwecke der Arbeitsuche in Deutschland aufhalten. Diesen Aufenthaltszweck hat er auch gegenüber dem Antragsgegner bei der Antragstellung angegeben. Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass er über ein anderes Aufenthaltsrecht verfügt. Weder geht er einer selbständigen oder unselbständigen Erwerbstätigkeit nach, noch nimmt er an einer Berufsausbildung teil (§ 2 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 FreizügG/EU). Ebenso wenig bestehen Hinweise darauf, dass er als Empfänger oder Erbringer von Dienstleistungen aufenthaltsberechtigt ist (§ 2 Abs. 2 Nr. 3 und Nr. 4 FreizügG/EU). Er hat auch kein fortwirkendes Aufenthaltsrecht wegen einer früheren Erwerbstätigkeit (§ 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU). Der Antragsteller ist nach eigenen Angaben erst am 15. Juli 2011 nach Deutschland gekommen, ohne dass er seither einer Erwerbstätigkeit nachgegangen ist. Wegen des erst kurzzeitigen Aufenthalts in Deutschland besteht auch kein Daueraufenthaltsrecht (§ 2 Abs. 2 Nr. 7, 4a FreizügG/EU).
Der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II verletzt nicht das Recht der Europäischen Union. Vielmehr beruht er auf Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (ABl. L 158 S. 77, 112). Auf diese europarechtliche Bestimmung hat der Gesetzgeber die Regelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ausdrücklich gestützt (BT-Drucksache 16/688, S. 13). Nach Art. 24 Abs. 2 Richtlinie 2004/38/EG ist der Aufnahmemitgliedstaat nicht verpflichtet, anderen Personen als Arbeitnehmern oder Selbständigen, Personen, denen dieser Status erhalten bleibt, und ihren Familienangehörigen während der ersten drei Monate des Aufenthalts oder gegebenenfalls während des längeren Zeitraums nach Artikel 14 Absatz 4 Buchst. b Richtlinie 2004/38/EG einen Anspruch auf Sozialhilfe oder vor Erwerb des Rechts auf Daueraufenthalt Studienbeihilfen, einschließlich Beihilfen zur Berufsausbildung, in Form eines Stipendiums oder Studiendarlehens zu gewähren. Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie bestimmt, dass auf keinen Fall eine Ausweisung verfügt werden darf, wenn die Unionsbürger in das Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats eingereist sind, um Arbeit zu suchen. In diesem Fall dürfen die Unionsbürger und ihre Familienangehörigen nicht ausgewiesen werden, solange die Unionsbürger nachweisen können, dass sie weiterhin Arbeit suchen und dass sie eine begründete Aussicht haben, eingestellt zu werden. Damit dürfen die Mitgliedstaaten einem Unionsbürger die Sozialhilfe versagen, wenn er zum Zwecke der Arbeitsuche eingereist ist.
Die Frage, welche Leistungen unter den Begriff der Sozialhilfe im Sinne des Art. 24 Abs. 2 Richtlinie 2004/38/EG fallen, ist nach der Rechtsprec...