Entscheidungsstichwort (Thema)

Verpflichtung des Grundsicherungsträgers zur Rücknahme seines beim Rentenversicherungsträger für den Grundsicherungsberechtigten gestellten Rentenantrags im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes

 

Orientierungssatz

1. Bei der Anordnung der aufschiebenden Wirkung von Klage bzw. Widerspruch gegen einen ergangenen Bescheid ist eine Interessenabwägung vorzunehmen. Ergibt die Abwägung, dass das private Interesse des jeweiligen Antragstellers an der Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs das öffentliche Interesse des Antragstellers an der sofortigen Vollziehung seines Bescheides überwiegt, so ist die aufschiebende Wirkung regelmäßig anzuordnen.

2. Nach § 5 Abs. 3 S. 1 SGB 2 kann der Grundsicherungsträger, wenn ein Leistungsberechtigter trotz Aufforderung einen Antrag auf Leistungen eines anderen Trägers nicht stellt, den Antrag selbst stellen sowie Rechtsbehelfe und Rechtsmittel einlegen. Diese Vorschrift setzt eine Pflicht des Leistungsberechtigten zur Inanspruchnahme vorrangiger Leistungen voraus, welche durch § 12a SGB 2 konkretisiert wird. Bis zur Vollendung des 63. Lebensjahres gilt diese Verpflichtung nach § 12a S. 2 Nr. 1 SGB 2 aber nicht für eine vorzeitige Inanspruchnahme der Altersrente.

3. Die Entscheidung darüber, ob die in § 5 Abs. 3 S. 1 SGB 2 genannte Aufforderung an den Hilfebedürftigen ergeht, steht im pflichtgemäßen Ermessen des Grundsicherungsträgers.

4. Bei der Ermessensausübung sind u. a. die voraussichtliche Dauer oder Höhe des Leistungsbezugs, absehbarer Einkommenszufluss oder dauerhafte Krankheit zu berücksichtigen. Dies gilt auch bei vorzeitiger Inanspruchnahme einer Altersrente, weil diese regelmäßig mit Abschlägen verbunden ist.

5. Hat der Grundsicherungsträger bei seiner Ermessensentscheidung unberücksichtigt gelassen, dass der Betroffene im Fall der Bewilligung einer vorgezogenen Altersrente gemäß § 7 Abs. 4 S. 1 SGB 2 von Eingliederungsleistungen nach den §§ 16 ff. SGB 2 ausgeschlossen ist, so hat er von dem ihm eingeräumten Ermessen unzureichend Gebrauch gemacht. In einem solchen Fall ist dem Grundsicherungsträger auf Antrag im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes aufzugeben, seinen beim Rentenversicherungsträger gestellten Rentenantrag zurückzunehmen. Dem Antragsteller drohen anderenfalls unwiederbringliche Nachteile, weil die Ausschlusswirkung des § 7 Abs. 4 S. 1 SGB 2 spätestens nach bestandskräftiger Rentenbewilligung nicht mehr oder nur noch unter erheblichen Schwierigkeiten beseitigt werden kann.

 

Tenor

Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 30. September 2014 abgeändert.

Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 23. Juni 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. August 2014 bei dem Sozialgericht Berlin (Az. S 109 AS 21368/14) wird angeordnet.

Dem Antragsgegner wird im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes aufgegeben, seinen bei der Deutschen Rentenversicherung Bund mit Schreiben vom 5. August 2014 gestellten Rentenantrag zurückzunehmen.

Der Antragsgegner hat dem Antragsteller dessen außergerichtliche Kosten für das gesamte Verfahren zu erstatten.

Der Antrag des Antragstellers, ihm für die Durchführung des Beschwerdeverfahrens Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwältin zu bewilligen, wird abgelehnt.

 

Gründe

Die zulässige Beschwerde des Antragstellers ist begründet. Zu Unrecht hat es das Sozialgericht abgelehnt, die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 23. Juni 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. August 2014 (bei dem in dem Widerspruchsbescheid in Bezug genommenen “Bescheid„ vom 17. Juli 2014 handelt es sich um keinen eigenständig anfechtbaren Verwaltungsakt) anzuordnen, mit dem der Antragsgegner den Antragsteller dazu aufgefordert hat, eine vorgezogene Altersrente zu beantragen. Ebenfalls zu Unrecht abgelehnt hat das Sozialgericht den Antrag des Antragstellers, den Antragsgegner im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes zur Rücknahme seines mit Schreiben vom 5. August 2014 bei der Deutschen Rentenversicherung Bund gestellten Rentenantrages zu verpflichten.

Der Antrag des Antragstellers ist in Bezug auf die begehrte Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zulässig. Denn abweichend vom Regelfall des § 86a Abs. 1 Satz 1 SGG hat die gegen den Bescheid vom 23. Juni 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. August 2014 erhobene Klage gemäß § 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG in Verbindung mit § 39 Nr. 3 des Sozialgesetzbuches Zweites Buch (SGB II) keine aufschiebende Wirkung, weil es sich bei dem genannten Bescheid um einen Verwaltungsakt handelt, mit dem der Antragsteller im Sinne der zuletzt genannten Vorschrift zur Beantragung einer vorrangigen Leistung aufgefordert worden ist.

Für den Antrag fehlt es hier auch nicht etwa deshalb an dem erforderlichen Rechtsschutzbedürfnis, weil de...

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