Entscheidungsstichwort (Thema)

Grundsicherung für Arbeitsuchende. Aufforderung zur vorzeitigen Rentenbeantragung. Anforderung an die vorherige Ermessensausübung und Begründung der Ermessensentscheidung. Ermessensfehlgebrauch. fehlende ausreichende Begründung auch des Widerspruchsbescheides

 

Orientierungssatz

1. Bereits die Aufforderung, vorrangige Sozialleistungen gem § 12a SGB 2 zu beantragen (hier vorzeitige Altersrente), setzt eine Ermessensentscheidung des Grundsicherungsträgers voraus. Gem § 35 Abs 1 S 3 SGB 10 muss die Begründung der Ermessensentscheidung im Aufforderungsschreiben die Gesichtspunkte erkennen lassen, von denen der Grundsicherungsträger bei der Ausübung des Ermessens ausgegangen ist (vgl LSG Essen vom 12.6.2012 - L 7 AS 916/12 B ER).

2. Unterstellt, die fehlende Ermessensausübung könnte im Widerspruchsverfahren nachgeholt werden, reicht es nicht aus, im Widerspruchsbescheid als Ermessenskriterien den vorzeitigen Anspruch auf Rente, das Nichtvorliegen von Härtefall bzw Unbilligkeit der vorzeitigen Rentenbeantragung, den Vorrang der Rentenleistungen sowie die Möglichkeit ergänzender Sozialhilfeleistungen aufzuführen, wenn aus der Begründung des Widerspruchsbescheides die Abwägung der Ermessenskriterien in Bezug auf den zu entscheidenden konkreten Einzelfall weiterhin nicht zu erkennen ist.

 

Tenor

Auf die Beschwerden des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 23. Juni 2014 abgeändert. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid vom 26. Mai 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10. Juni 2014 wird angeordnet.

Im Übrigen wird die Beschwerde, soweit sie sich gegen die Ablehnung des Antrags auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe richtet, zurückgewiesen.

Der Antragsgegner trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers in beiden Rechtszügen.

Der Antrag auf Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren wird abgelehnt.

 

Gründe

Die form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 23. Juni 2014, mit der er beantragt, die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid vom 26. Mai 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10. Juni 2014 anzuordnen, ist begründet.

Der Antragsgegner bewilligte dem am 1950 geborenen Antragsteller letztmals mit Bescheid vom 20. Mai 2014 für die Zeit vom 01. Juli 2014 bis zum 31. Dezember 2014 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in Höhe von 654,24 Euro monatlich. Mit Bescheid vom 26. Mai 2014 forderte der Antragsgegner den Antragsteller nach Einholung einer Rentenauskunft der Deutschen Rentenversicherung Berlin-Brandenburg vom 16. Mai 2014 auf, Rente wegen Alters bei der zuständigen Rentenversicherung zu beantragen und bis zum 12. Juni 2014 den Nachweis über die Beantragung vorzulegen. Der Antragsteller widersprach der Aufforderung zur Rentenantragstellung, da sie ermessensfehlerhaft sei. Mit Widerspruchsbescheid vom 10. Juni 2014 wies der Antragsgegner den Widerspruch zurück. Er, der Antragsgegner, habe den Antragsteller nach Abwägung der im Widerspruchsbescheid ausführlich dargelegten Ermessenserwägungen zum vorzeitigen Anspruch auf Rente, zum Nichtvorliegen von Härtefall bzw. Unbilligkeit der vorzeitigen Rentenbeantragung, zum Vorrang von versicherungsfinanzierten Leistungen vor steuerfinanzierten Leistungen und zur Möglichkeit der ergänzenden Inanspruchnahme von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII), die denen des Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) in diesem Fall vorzuziehen seien, auffordern dürfen, die Rente wegen Alters vorzeitig zu beantragen. Mit Schreiben vom 12. Juni 2014 stellte er außerdem für den Antragsteller den Rentenantrag und meldete seinen Erstattungsanspruch nach §§ 102 ff Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) an.

Bereits am 04. Juni 2014 ist bei dem Sozialgericht der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs eingegangen, den der Antragsteller mit der fehlerhaften Ermessensausübung des Antragsgegners begründet hat. Am 01. Juli 2014 hat er außerdem Klage gegen den Bescheid vom 26. Mai 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 10. Juni 2014 erhoben, die unter dem Aktenzeichen S 123 AS 16690/14 registriert ist.

Der Rechtsschutz richtet sich nach § 86 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG), denn Widerspruch und Anfechtungsklage haben gemäß § 86 a Abs. 2 Nr. 4 SGG i. V. m. § 39 Nr. 3 SGB II keine aufschiebende Wirkung. Bei der Aufforderung zur Rentenantragstellung handelt es sich außerdem um einen Verwaltungsakt im Sinne von § 31 Satz 1 SGB X (vgl. Bundessozialgericht ≪BSG≫, Beschluss vom 16. Dezember 2011 - B 14 AS 138/11 B - m. w. N., zitiert nach juris).

Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts ist der im erstinstanzlichen Verfahren gestellte Antrag, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs herzustellen, nach Erlass des Widerspruchsbescheids nicht unstatthaft geworden. Der begehrten Anordnung steht nicht entgegen, dass der vom Antragstelle...

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