Entscheidungsstichwort (Thema)

Rechtmäßigkeitsvoraussetzungen für einen Sanktionsbescheid. Minderung des Arbeitslosengeldes um 100 v.H. Nichtentscheidung über die Bewilligung von Sachleistungen in Sanktionsbescheid

 

Orientierungssatz

1. Nach SGB II (juris: SGB 2) 31 Abs. 3 S. 2 kann das Arbeitslosengeld II um 100 vom Hundert gemindert werden, wenn ohne wichtigen Grund eine weitere wiederholte Pflichtverletzung iSv SGB II (juris: SGB 2) 31 Abs. 1 vorliegt.

2. Die Nichtentscheidung über die Bewilligung von Sachleistungen bei einer Kürzung von 100 vom 100 der nach SGB II (juris: SGB 2) § 20 maßgebenden Regelleistung führt nicht unmittelbar zu einer Rechtswidrigkeit des Sanktionsbescheides.

3. Das Ermessen des Leistungsträgers ist in diesen Fällen nicht stets in der Weise reduziert, dass ergänzende Sachleistungen oder geldwerte Leistungen immer und zwingend zu erbringen sind (Entgegen: LSG Berlin-Potsdam, 2008-12-16, L 10 B 2154/08 AS ER, ZFSH/SGB 2009, 233).

4. Der allgemeine Hinweis auf die Möglichkeit der Erbringung ergänzender Sachleistungen ist hinreichend (Anschluss: LSG Essen, 2009-12-10, L 9 B 51/09 AS ER).

 

Tenor

Auf die Beschwerde der Antragsgegnerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Potsdam vom 25. Juni 2010 insoweit aufgehoben, als darin die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 12. Mai 2010 (richtig: 17. Mai 2010) (Sanktionsbescheid) angeordnet worden ist.

Der Antrag des Antragstellers auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 12. Mai 2010 (richtig: 17. Mai 2010) (Sanktionsbescheid) wird abgelehnt.

Die Antragsgegnerin hat dem Antragsteller die Hälfte der notwendigen außergerichtlichen Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens zu erstatten; außergerichtliche Kosten für das Beschwerdeverfahren sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

Die zulässige Beschwerde der Antragsgegnerin, die sich allein gegen die im Beschluss des Sozialgerichts Potsdam vom 25. Juni 2010 angeordnete aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den (Sanktions-)Bescheid vom 17. Mai 2010 richtet, ist begründet.

Zu Unrecht hat das Sozialgericht Potsdam die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den (Sanktions-)Bescheid der Antragsgegnerin vom 17. Mai 2010 angeordnet.

Gemäß § 86 b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Hier haben Widerspruch und Anfechtungsklage gemäß § 39 Nr. 1 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch (SGB II) keine aufschiebende Wirkung. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs bzw. der Anfechtungsklage ist anzuordnen, wenn eine Interessenabwägung ergibt, dass dem privaten Aussetzungsinteresse gegenüber dem öffentlichen Vollzugsinteresse der Vorrang einzuräumen ist. Dabei ist zu beachten, dass der Gesetzgeber grundsätzlich die sofortige Vollziehung angeordnet hat. Davon abzuweichen besteht nur Anlass, wenn im Einzelfall gewichtige Argumente für eine Umkehr des gesetzgeberisch angenommenen Regelfalls sprechen, d.h. besondere Umstände vorliegen, die ausnahmsweise das Privatinteresse des vom Verwaltungsakt Belasteten in den Vordergrund treten lassen (Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Kommentar zum SGG, 9. Aufl. 2008, § 86b Rn 12 c m.w.N.). Ein wesentliches Kriterium bei der Interessenabwägung ist die nach vorläufiger Prüfung der Rechtslage zu bewertende Erfolgsaussicht des Rechtsbehelfs in der Hauptsache (vgl. auch Keller a.a.O., § 86 b Rn 12, 12 e; Berlit, info also 2005, S. 3, 6; Krodel, Das sozialgerichtliche Eilverfahren, 2. Aufl. 2008, S. 92), wobei beachtet werden muss, dass für die sofortige Vollziehung eines Verwaltungsaktes ein besonderes Interesse erforderlich ist, das über jenes hinausgeht, das den Verwaltungsakt selbst rechtfertigt (BVerfG, Beschluss vom 30. Oktober 2009, 1 BvR 2395/09 - veröffentlicht in juris und in NJW 2010, 1871-1872).

Hat die Hauptsache offensichtlich Aussicht auf Erfolg, ist die aufschiebende Wirkung in der Regel anzuordnen, weil am Vollzug eines rechtswidrigen Bescheides in der Regel kein öffentliches Interesse besteht (Keller, a.a.O., § 86b Rn 12 f). Bei einem als rechtmäßig zu beurteilenden Bescheid hingegen ist das öffentliche Interesse am Vollzug regelmäßig vorrangig. Sind die Erfolgsaussichten nicht in dieser Weise abschätzbar, d.h. ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens offen, so ist jedenfalls in Fällen, in denen wie vorliegend, existenzsichernde Leistungen in Frage stehen und damit die Wahrung der Würde des Menschen berührt wird, eine Folgenabwägung vorzunehmen, die auch Fragen des Grundrechtsschutzes einbezieht (vgl. BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 2005, 1 BvR 569/05 Rn. 25,26,29, in Breith. 2005, 803 ff.).

Unter Anwendung dieser Kriterien kann hier die Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs, der nach § 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG i.V.m. § 39 Nr. 1 SGB II grundsätzlich ke...

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