Entscheidungsstichwort (Thema)

Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für Ausländer bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. spanischer Staatsangehöriger. Weiteranwendung des EuFürsAbk nach dem 19.12.2011. Unwirksamkeit der Vorbehaltserklärung der Bundesregierung

 

Orientierungssatz

1. Ein Ausländer, der sein Aufenthaltsrecht allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ableitet, ist nicht von den Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende ausgeschlossen, wenn er vom Schutzbereich des Europäischen Fürsorgeabkommens (juris: EuFürsAbk) erfasst wird (vgl BSG vom 19.10.2010 - B 14 AS 23/10 R = BSGE 107, 66 = SozR 4-4200 § 7 Nr 21).

2. Der von der Bundesregierung erst mit Wirkung zum 19.12.2011 erklärte Vorbehalt nach Art 16 Buchst b EuFürsAbk gegen die Anwendung des EuFürsAbk auf die Leistungen nach SGB 2 schließt Staatsangehörige der Signatarstaaten (hier Spanien) nicht wirksam vom Leistungsbezug aus.

 

Tenor

Auf die Beschwerden der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 29. März 2012 über die Ablehnung des Erlasses einer einstweiligen Anordnung aufgehoben.

Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ab dem 16. März 2012 - in diesem Monat zeitanteilig - bis zur Entscheidung in der Hauptsache, längstens jedoch bis zum 31. August 2012 in Höhe von 299,20 Euro monatlich und Kosten der Unterkunft und Heizung in Höhe von 94,50 Euro monatlich zu zahlen.

Im Übrigen wird die Beschwerde gegen die Ablehnung der Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Verfahren bei dem Sozialgericht zurückgewiesen.

Der Antragsgegner hat der Antragstellerin deren notwendigen außergerichtlichen Kosten des gesamten Verfahrens zu erstatten.

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren unter Beiordnung des Bevollmächtigten der Antragstellerin wird abgelehnt.

 

Gründe

Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts, mit der sie beantragt, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihr ab dem 16. März 2012 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts einschließlich der Kosten der Unterkunft (KdU) und Heizung zu gewähren, ist zulässig und begründet.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung ist, dass sowohl ein Anordnungsanspruch (d. h. ein nach der Rechtslage gegebener Anspruch auf die einstweilig begehrte Leistung) wie auch ein Anordnungsgrund (im Sinne der Eilbedürftigkeit einer vorläufigen Regelung) bestehen. Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i. V. m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung). Wegen des vorläufigen Charakters einer einstweiligen Anordnung soll durch sie eine endgültige Entscheidung in der Hauptsache grundsätzlich nicht vorweggenommen werden. Bei seiner Entscheidung kann das Gericht sowohl eine Folgenabwägung vornehmen wie auch eine summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache anstellen. Drohen aber ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, dann dürfen sich die Gerichte nur an den Erfolgsaussichten orientieren, wenn die Sach- und Rechtslage abschließend geklärt ist. Ist dem Gericht dagegen eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist allein anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden (Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 596/05 -). Handelt es sich - wie hier - um Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende, die der Sicherstellung eines menschenwürdigen Lebens dienen und damit das Existenzminimum absichern, muss die überragende Bedeutung dieser Leistungen für den Empfänger mit der Folge beachtet werden, dass ihm im Zweifel die Leistungen - ggf. vermindert auf das absolut erforderliche Minimum - aus verfassungsrechtlichen Gründen vorläufig zu gewähren sind (vgl. Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 22. Januar 2007 - L 19 B 687/06 AS ER -, zitiert nach juris).

Ausgehend von diesen Grundsätzen sind die Anspruchsvoraussetzungen für die Gewährung von Arbeitslosengeld II nach § 7 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) ab dem 16. März 2012 gegeben, denn die am 1959 geborene, erwerbsfähige Antragstellerin hat glaubhaft gemacht, ihren Lebensunterhalt nicht ausreichend aus zu berücksichtigendem Einkommen oder Vermögen sichern zu können (§§ 7, 8, 9 SGB II). Ihr waren von dem bis zu ihrem Umzug in den Zuständigkeitsbereich des Antragsgegners vormals zuständigen Jobcenter mit Bescheid vom 13. September 2011 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts einschließlich KdU und Heizung für die Zeit vom 01. Aug...

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