Entscheidungsstichwort (Thema)

Krankenversicherung. Arzneimittelversorgung. Festlegung des Erstattungsbetrags durch Entscheidung der Schiedsstelle. Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage. Geltung des höchstmöglichen rechtlich denkbaren Erstattungsbetrags

 

Leitsatz (amtlich)

Im Rahmen eines gerichtlichen Eilverfahrens, das sich gegen die Festlegung eines Erstattungsbetrages iSv § 130b Abs 3 SGB V durch die Schiedsstelle nach § 130b Abs 5 SGB V richtet, kann die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Schiedsspruch nur so weit angeordnet werden, dass bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache der höchste rechtlich denkbare Erstattungsbetrag zu gelten hat.

 

Normenkette

SGB V § 130b Abs. 1, 3, 4 Sätze 5-6, Abs. 5 S. 2, Abs. 9, § 35a Abs. 1 S. 7, Abs. 3, § 12 Abs. 1; SGG § 86b Abs. 1 S. 1 Nr. 2

 

Tenor

Die aufschiebende Wirkung der Klage (L 9 KR 514/15 KL) gegen den Schiedsspruch der Antragsgegnerin vom 3. November 2015 wird angeordnet, soweit die Antragsgegnerin darin einen Erstattungsbetrag von weniger als 0,7256 Euro je Bezugsgröße festgesetzt hat; im Übrigen wird der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zurückgewiesen.

Antragstellerin und Antragsgegnerin tragen die Kosten des Verfahrens jeweils zur Hälfte; die Beigeladenen tragen ihre außergerichtlichen Kosten jeweils selbst.

Der Wert des Verfahrensgegenstandes wird auf 1.250.000,00 Euro festgesetzt.

 

Gründe

I.

Die Antragstellerin begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen einen Schiedsspruch der Antragsgegnerin, der gemeinsamen Schiedsstelle nach § 130b Abs. 5 Sozialgesetzbuch/Fünftes Buch (SGB V).

Die Antragstellerin brachte als pharmazeutische Unternehmerin erstmalig am 1. Juni 2014 das Arzneimittel Betmiga (Wirkstoff: Mirabegron, Wirkstärke 50 mg) in Deutschland in den Verkehr. Betmiga verfügt seit Dezember 2012 über eine europaweite arzneimittelrechtliche Zulassung der European Medicines Agency (EMA) für die Anwendungsgebiete “symptomatische Therapie von imperativem Harndrang, erhöhte Miktionsfrequenz und/oder Dranginkontinenz, die bei Erwachsenen mit überaktiver Blase (OAB, overactive bladder) auftreten können.„

Durch Beschluss vom 20. November 2014 hat der Beigeladene zu 2., der Gemeinsame Bundesausschuss, auf der Grundlage von § 35a SGB V den Nutzen des Wirkstoffs Mirabegron bewertet und entschieden, dass ein Zusatznutzen von Mirabegron im Verhältnis zur zweckmäßigen Vergleichstherapie nicht belegt sei. In seinem Beschluss hat der Beigeladene zu 2. die Jahrestherapiekosten pro Patient (Apothekenverkaufspreis nach Abzug gesetzlich vorgeschriebener Rabatte [AVP netto]) für Mirabegron bzw. für die zweckmäßige Vergleichstherapie wie folgt beziffert:

Mirabegron

633,53 Euro

Darifenacin

591,15 Euro - 680,28 Euro

Fesoterodin

580,17 Euro - 632,47 Euro

Propiverin

349,06 Euro - 523,59 Euro

Solifenacin

582,09 Euro - 669,33 Euro

Tolterodin

349,92 Euro

Trospiumchlorid

196,19 Euro - 372,59 Euro

Die Angabe der Jahrestherapiekosten in Preisspannen ist darauf zurückzuführen, dass die einzelnen Arzneimittel in verschiedenen und unterschiedlich bepreisten Wirkstärken vertrieben werden, so etwa Trospiumchlorid in den Wirkstärken 20 mg, 30 mg und 45 mg bzw. mit unterschiedlichen Tagesdosierungen zugelassen sind und angewendet werden, zum Beispiel Trospiumchlorid mit 30 mg pro Tag (zweimal täglich eine halbe Tablette à 30 mg), mit 40 mg pro Tag (zweimal täglich eine Tablette à 20 mg) bzw. mit 45 mg pro Tag (dreimal täglich eine drittel Tablette à 45 mg).

Hierauf haben die Antragstellerin und der Beigeladene zu 1., der GKV-Spitzenverband, von Januar bis April 2015 Verhandlungen nach § 130b Abs. 1 SGB V über den von den Krankenkassen für das Arzneimittel zu übernehmenden Erstattungsbetrag geführt. Eine Einigung über die Höhe des Erstattungsbetrages kam nicht zustande, weil Antragstellerin und Beigeladener zu 1. unterschiedliche Auffassungen zur Berechnung der Jahrestherapiekosten für Trospiumchlorid vertraten. Am 20. Mai 2015 rief der Beigeladene zu 1. die Antragsgegnerin an und beantragte, die streitig gebliebenen Vertragsinhalte (die Höhe des Erstattungsbetrages) durch Schiedsspruch festzusetzen.

Weil sie ihre Preisvorstellungen für Betmiga bis dahin nicht durchsetzen konnte, stellte die Antragstellerin den Vertrieb des Arzneimittels in Deutschland zum 1. Juni 2015 ein, um zu verhindern, dass in der Lauer-Taxe als öffentlich zugänglicher Referenzquelle ein aus ihrer Sicht zu niedriger Abgabepreis gelistet werde, der europaweit eine Preisspirale nach unten in Gang setzen könne.

In dem Schiedsverfahren beantragte der Beigeladene zu 1. die Festsetzung eines Erstattungsbetrages von 0,3827 Euro je Bezugsgröße. Hierfür legte er Trospiumchlorid in einer Dosierung von 30 mg als wirtschaftlichste zweckmäßige Vergleichstherapie zugrunde (Tagesdosierung: zweimal täglich eine halbe Tablette à 30 mg, mithin 365 Tabletten pro Jahr). In dieser Dosierung werde Trospiumchlorid am häufigsten abgegeben, nämlich - auf Grundlage der Daten nach § 217f SGB V - in 63 Prozent aller Fälle...

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