Entscheidungsstichwort (Thema)

Grundsicherung für Arbeitsuchende: Leistungsgewährung an EU-Ausländer. Folgenabwägung im sozialgerichtlichen Eilverfahren

 

Orientierungssatz

Im sozialgerichtlichen Eilverfahren über Leistungen zur Grundsicherung für Arbeitsuchende für einen EU-Ausländer ist im Rahmen der Folgeabwägung bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen eine vorläufige Leistungsgewährung in Höhe jedenfalls der Mindestleistung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz geboten.

 

Tenor

Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 28. Juni 2012 geändert. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller für die Zeit ab Zustellung dieses Beschlusses bis zum 31. Juli 2012 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts, und zwar anteilig ausgehend von einem monatlichen Betrag in Höhe von 225,- EUR, zu gewähren. Dem Antragsteller wird für das erstinstanzliche Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes Prozesskostenhilfe unter Beiordnung seines Bevollmächtigten bewilligt. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

Der Antragsgegner trägt ein Drittel der außergerichtlichen Kosten des Antragstellers im gesamten Verfahren.

Dem Antragsteller wird für das Beschwerdeverfahren des einstweiligen Rechtsschutzes Prozesskostenhilfe unter Beiordnung seines Bevollmächtigten bewilligt.

 

Gründe

Wegen der Dringlichkeit der Sache war in entsprechender Anwendung von § 155 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3, Satz 2 und Abs. 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch den Vorsitzenden und Berichterstatter zu entscheiden.

Die Beschwerde des Antragstellers ist in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang begründet. Im Übrigen ist das Rechtsmittel nicht begründet und war daher zurückzuweisen.

Soweit der Antragsteller mit seinem erstinstanzlich gestellten (vgl Antragsschrift vom 13. Juni 2012) und bei verständiger Würdigung (vgl § 123 SGG) mit der Beschwerde weiter verfolgten - konkret bezifferten - Antrag auch Leistungen für Unterkunft und Heizung für die Zeit vom 13. Juni 2012 bis 31. Juli 2012 geltend macht, fehlt es bereits an einem Anordnungsgrund. Er lebt ungekündigt zur Untermiete bei Frau M-S, so dass eine Wohnungs- oder gar Obdachlosigkeit jedenfalls derzeit nicht zu besorgen ist. An einem unaufschiebbar eiligen Regelungsbedürfnis fehlt es darüber hinaus auch, soweit - bezogen auf die Entscheidung des Beschwerdegerichts - Leistungen für die Vergangenheit insgesamt in Rede stehen. Denn diesbezüglich kommt eine einstweilige Anordnung regelmäßig nicht in Betracht.

Im Übrigen ist die Beschwerde in dem im Tenor bezeichneten Umfang begründet. Für die Zeit ab Zustellung dieses Beschlusses bis 31. Juli 2012 war der Antragsgegner gemäß § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG vorläufig zu monatlichen Leistungen in Höhe der Grundleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) zu verpflichten (vgl § 3 Abs. 1 Satz 3 Nr 2, Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 AsylbLG). Der im Wege der einstweiligen Anordnung zu sichernde Anordnungsanspruch ergibt sich aufgrund einer verfassungsrechtlich gebotenen Folgenabwägung (siehe dazu BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 569/05 - juris) im Hinblick auf die bislang höchstrichterlich nicht geklärte Tragweite des gesetzlichen Leistungsausschlusses in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II für nichtdeutsche Staatsangehörige von Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU), deren Aufenthaltsrecht - wie bei dem die italienische Staatsangehörigkeit besitzenden Antragsteller - (nur) auf § 2 Abs. 2 Nr. 1 Freizügigkeitsgesetz/EU beruht. Wegen der in Art. 39 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV) verbürgten Freizügigkeit der Arbeitnehmer in der EU stellt sich jedenfalls die Frage, ob § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II mit Gemeinschaftsrecht in Einklang steht. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs - EuGH - (Urteil vom 04. Juni 2009 - C - 22/08 - juris) kann sich nämlich ein Arbeitsuchender, der tatsächliche Verbindungen mit dem Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats hergestellt hat, auf Art. 39 Abs. 2 EGV berufen, um eine finanzielle Leistung in Anspruch zu nehmen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern soll. Die Ausnahmevorschrift in Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38, die ggfs einem derartigen Leistungsanspruch entgegensteht, betrifft demgegenüber aber nur einen "Anspruch auf Sozialhilfe"; insoweit wird darauf hingewiesen, dass eine Leistungsvoraussetzung wie die der Erwerbsfähigkeit in § 8 SGB II ein Hinweis darauf sein könne, dass Leistungen der Grundsicherung den Zugang zur Beschäftigung erleichtern sollten (vgl. EuGH aaO). Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38 findet dann indes keine Anwendung.

Im Übrigen sind auch die sich aus der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 ergebenden rechtlichen Folgen für die hier einschlägige Ausschlussnorm nicht abschließend geklärt, dürften bei summarischer Prüfung aber zumindest nicht ausschließen, dass § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz in Art. 4 Verordnung (EG) Nr. 883/2004 verstößt.

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