Entscheidungsstichwort (Thema)
Verweisung des Rechtsstreits bei funktionaler Unzuständigkeit des Gerichts
Orientierungssatz
1. Bei funktionaler, d. h. instanzieller nicht gegebener Zuständigkeit ist der Rechtsstreit nach Anhörung der Beteiligten an das zuständige Gericht zu verweisen.
2. Die Verweisung ist für das angegangene Gericht nicht bindend, wenn schwere Verfahrensfehler zur Verweisung geführt haben. Ein solcher liegt dann vor, wenn die Prozessbeteiligten von der beabsichtigten Verweisung nicht in Kenntnis gesetzt wurden. Der Anhörungsmangel führt zur Aufhebung der Bindungswirkung.
Tenor
Die Sache wird zur Entscheidung an das funktionell zuständige Sozialgericht Berlin zurückverwiesen.
Gründe
Nach § 98 Sozialgerichtsgesetz (SGG) i. V. m. § 17a Abs. 2 Satz 1 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) ist bei sachlicher Unzuständigkeit der Rechtsstreit nach Anhörung an das zuständige Gericht zu verweisen. Diese Vorschriften sind jedenfalls entsprechend auch bei nicht gegebener funktionaler (instanzieller) Zuständigkeit anzuwenden (ebenso: Bundesfinanzhof, B. v. 14.Okt. 2003 - VIII S 15/03 - zur entsprechenden Vorschrift des § 70 Finanzgerichtsordnung; Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer-Leitherer SGG 8. A. 2005 § 98 Rdnr. 2). Ansonsten würde in Fällen wie dem vorliegenden den Beteiligten der nach Art. 101 des Grundgesetzes garantierte gesetzliche Richter entzogen.
Das Landessozialgericht ist funktionell unzuständig.
Eine Zuständigkeit als Beschwerdegericht nach § 29 SGG fehlt, weil keine Beschwerde vorliegt.
Beim Antrag vom 27. April 2005 handelt es sich um einen Abänderungsantrag nach § 86b Abs. 1 Satz 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) analog und nicht um einen Antrag auf Aufhebung der Ausgangsentscheidung. Er kann nicht als erneute Beschwerde gegen den ursprünglichen Beschluss angesehen werden. Der Antrag wurde im Anschluss an den entsprechenden und eindeutigen Hinweis des Vorsitzenden in der mündlichen Verhandlung vor dem Landessozialgericht Berlin (L 9 B 1/05 KR ER) gestellt. Über diesen Änderungsantrag hat zunächst das Ausgangsgericht in der Sache zu entscheiden, damit den Beteiligten keine Instanz genommen wird. Die Zuständigkeitsregeln sind nicht disponibel. Der Einwand, der Vorsitzende würde den Antrag auch in der Sache ohne weiteres ablehnen, darf also nicht greifen. Im konkreten Fall aber ist es darüber hinaus bereits deshalb, weil das Hauptsachenverfahren beim Sozialgericht anhängig ist, auch rein praktisch sinnvoll, wenn sich das zuständige Gericht auch mit dem korrespondierenden Eilverfahren befasst.
Einer Zurückverweisung steht nicht § 17a Abs. 2 Satz 3 GVG entgegen. Nach dieser Regelung ist eine Verweisung für das angegangene Gericht bindend. Der Sache nach kann möglicherweise in der Behandlung des Antrages durch das Sozialgericht eine Verweisung gesehen werden. Es hat sich mangels Beschwerde jedenfalls nicht um eine Nichtabhilfeentscheidung nach § 174 SGG gehandelt.
Eine Bindung nach § 17a Abs. 2 Satz 3 GVG tritt aber nicht ein, wenn schwere Verfahrensfehler zur Verweisung geführt haben.
Ein wesentlicher Verfahrensfehler, der zur Unbeachtlichkeit eines Verweisungsbeschlusses führt, ist vor allem dann anzunehmen worden, wenn die Prozessbeteiligten von der beabsichtigten Verweisung nicht in Kenntnis gesetzt wurden, so dass der in Art 103 Abs. 1 Grundgesetz verfassungsrechtlich garantierte Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt wurde (vgl Bundessozialgericht SozR 3-1720 § 17a Nr. 11 S 21 m. w. N. ).
Ein solcher Anhörungsmangel liegt hier vor. Der Vorsitzende hat die “Nichtabhilfe„ ohne weiteres verfügt.
Bedenken gegen die Anwendbarkeit des § 98 Satz 1 SGG im Eilverfahren an sich stellen sich jedenfalls hier nicht: Nicht die Antragstellerin ist hier das falsche Gericht angegangen. Es kann ihr keinesfalls zugemutet werden, einen “neuen„ Antrag beim “richtigen„ Gericht zu stellen.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 98 Satz 2 SGG i. V. m. § 17a Abs. 2 Satz 1 GVG; § 177 SGG).
Fundstellen