Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliche Verfahren: Gewährung von Prozesskostenhilfe. Anforderung an die hinreichende Erfolgsaussicht bei einer Klage gegen einen Sanktionsbescheid über die Absenkung der Leistungen zur Grundsicherung für Arbeitsuchende

 

Orientierungssatz

1. Eine hinreichende Erfolgsaussicht als Voraussetzung der Bewilligung von Prozesskostenhilfe ist im sozialgerichtlichen Verfahren gegen einen Sanktionsbescheid, mit dem die Leistungen zur Grundsicherung für Arbeitsuchende vollständig abgesenkt werden, bis zu einer Klärung der Verfassungskonformität der Regelung als gegeben anzunehmen.

2. Bedarf die Prüfung der Rechtmäßigkeit eines Sanktionsbescheides wegen Verletzung der Pflicht aus einem Eingliederungsverwaltungsakt noch einer Tatsachenermittlung durch das Sozialgericht, um die als Entschuldigung für die Nichtumsetzung der Vorgaben durch den Hilfeempfänger vorgetragenen Gründe zu prüfen, ist von der für die Gewährung von Prozesskostenhilfe gebotenen hinreichenden Erfolgsaussicht auszugehen.

 

Tenor

Auf die Beschwerde der Klägerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 4. Juni 2019 aufgehoben.

Der Klägerin wird für das Verfahren bei dem Sozialgericht Berlin Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt L bewilligt.

 

Gründe

Die Beschwerde der – bedürftigen - Klägerin ist begründet. Ihr ist für die erstinstanzlich erhobene und statthafte isolierte Anfechtungsklage gegen den Sanktionsbescheid des Beklagten vom 11. Januar 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 26. Februar 2019 Prozesskostenhilfe (PKH) unter Beiordnung von Rechtsanwalt L zu bewilligen (§§ 73a Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫ iVm §§ 114, 121 Abs. 2 Zivilprozessordnung ≪ZPO≫). Die Klage hat hinreichende Aussicht auf Erfolg.

Die Gewährleistung der Rechtsschutzgleichheit aus Art. 3 Abs. 1 iVm Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz (GG) gebietet eine weitgehende Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes (vgl BVerfGE 9, 124 ≪130 f.≫; stRspr). Zwar ist es verfassungsrechtlich unbedenklich, die Gewährung von PKH davon abhängig zu machen, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg hat und nicht mutwillig erscheint. Die Prüfung der Erfolgsaussichten soll jedoch nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung selbst in das summarische PKH-Verfahren zu verlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten zu lassen. Das PKH-Verfahren will den Rechtsschutz, den der Rechtsstaatsgrundsatz erfordert, nämlich nicht selbst bieten, sondern ihn erst zugänglich machen (vgl BVerfGE 81, 347 ≪357≫). Danach dürfen bislang ungeklärte Rechts- und Tatfragen nicht im PKH-Verfahren entschieden werden, sondern müssen auch von Unbemittelten einer prozessualen Klärung zugeführt werden können. Dabei muss PKH nicht immer schon dann gewährt werden, wenn die entscheidungserhebliche Rechtsfrage – wie das hier bei der Frage der Verfassungskonformität einer 100%-Sanktion der Fall ist - noch nicht höchstrichterlich geklärt ist. Die Ablehnung von PKH kann ungeachtet des Fehlens einschlägiger höchstrichterlicher Rechtsprechung gerechtfertigt sein, wenn die Rechtsfrage angesichts der gesetzlichen Regelung oder im Hinblick auf Auslegungshilfen, die von bereits vorliegender Rechtsprechung bereitgestellt werden, ohne Schwierigkeiten beantwortet werden kann. Ist dies jedoch nicht der Fall und steht eine höchstrichterliche Klärung noch aus, so ist es mit dem Gebot der Rechtsschutzgleichheit nicht zu vereinbaren, der unbemittelten Partei wegen fehlender Erfolgsaussichten ihres Begehrens Prozesskostenhilfe vorzuenthalten (vgl BVerfGE 81, 347 ≪359≫; BVerfG, Beschluss vom 20. Mai 2016 – 1 BvR 3359/14 = NJW 2016, 3228-3230). Ansonsten würde der unbemittelten Partei im Gegensatz zu der bemittelten die Möglichkeit genommen, ihren Rechtsstandpunkt im Hauptsacheverfahren darzustellen (vgl BVerfG aaO mwN aus der Rspr).

Gemessen an diesen Grundsätzen ist der Klägerin PKH zu bewilligen. Bereits die Prüfung, ob die einfachgesetzlichen Bestimmungen § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 iVm §§ 31a Abs. 1 Satz 3, 31b Abs. 1 Satz 1 und Satz 3 Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II) die von dem Beklagten verlautbarten Verwaltungsentscheidungen tragen, bedarf weiterer Amtsermittlungen insbesondere im Hinblick darauf, dass die Klägerin eine krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit bzw eine „schwere Lese- und Rechtschreibschwäche“ als Grund dafür anführt, dass sie den ihr im Eingliederungsverwaltungsakt vom 14. November 2018 auferlegten Bewerbungsbemühungen nicht (zeitnah) nachkommen konnte bzw kann. Sind weitere Sachermittlungen erforderlich, kann eine hinreichende Erfolgsaussicht jedoch nicht verneint werden (vgl Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl § 73a Rn 7a mwN).

Hinzu kommt, dass die Frage, ob der in § 31a Abs. 1 Satz 3 Sozialgesetzbuch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II) angeordnete vollstän...

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