Entscheidungsstichwort (Thema)

Aussetzung des Verfahrens. entsprechende Anwendung. Musterverfahren beim BVerfG. besondere Beitragsbemessungsgrenze. stellvertretender Minister. Prozesswirtschaftlichkeit. Entscheidungserhebliches Gesetz. Richtervorlage. Zusatzversorgungsträger. Verfahrensdauer. Sozialgerichtliches Verfahren: Zulässigkeit der Aussetzung eines Verfahrens wegen einer Richtervorlage in einem anderen Verfahren zur Überprüfung einer streiterheblichen Rechtsnorm

 

Leitsatz (redaktionell)

Hat ein Gericht gem. Art. 100 GG dem Bundesverfassungsgericht ein Gesetz zur Prüfung vorgelegt, so darf ein anderes Gericht, in dessen Verfahren das vorgelegte Gesetz ebenfalls entscheidungserheblich ist, das bei ihm anhängige Verfahren aussetzen.

 

Normenkette

GG Art. 100; SGG § 114 Abs. 2; BVerfGG § 31 Abs. 1; AAÜG § 6 Abs. 2

 

Tenor

Die Beschwerde der Klägerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 05. Oktober 2007 wird zurückgewiesen.

 

Gründe

Die Klägerin wendet sich mit ihrer Beschwerde gegen den Beschluss vom 05. Oktober 2007, mit dem das Sozialgericht das Verfahren gegen die Feststellungsbescheide der Beklagten vom 02. Dezember 1994 (Widerspruchsbescheid vom 15. Mai 1996), 10. April 1997, 10. Dezember 2001 und 12. Oktober 2005 gemäß § 114 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) analog ausgesetzt hat.

Die zulässige Beschwerde, der das Sozialgericht nicht abgeholfen hat, ist unbegründet. Die im richterlichen Ermessen des Sozialgerichts getroffene Entscheidung, das Verfahren auszusetzen, beruht auf sachgerechten Erwägungen.

Nach § 114 Abs. 2 SGG kann das Gericht die Verhandlung aussetzen, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil vom Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, welches den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet oder von einer Verwaltungsstelle festzustellen ist. Allerdings betrifft die dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) vom Sozialgericht Berlin mit Beschluss vom 09. Juni 2006 (S 35 RA 5653/97 W 05) nach Artikel 100 Grundgesetz (GG) vorgelegte Frage zur Vereinbarkeit des § 6 Abs. 2 Anspruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetz (AAÜG) mit dem GG kein “Rechtsverhältnis„ im Sinne des § 114 Abs. 2 SGG, sondern eine vom Gericht zu entscheidende Rechtsfrage.

Die Frage, ob die Aussetzung des Verfahrens nach § 114 SGG ohne gleichzeitige Vorlage an das BVerfG zulässig ist, wenn die Verfassungsmäßigkeit eines entscheidungserheblichen Gesetzes - wie hier des § 6 Abs. 2 AAÜG - bereits Gegenstand einer anhängigen Richtervorlage ist, ist umstritten (vgl. zum Streitstand zur vergleichbaren Vorschrift des § 148 Zivilprozessordnung - ZPO - Baumbach/Lauterbach/Hartmann, ZPO, 63. Aufl., § 148 Rdnr. 4 m. w. N. zum Meinungsstand; Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 8. Aufl., Rdnr. 7b zu § 114).

§ 114 SGG trifft hierzu keine unmittelbare Regelung. Der Senat hält jedoch die Aussetzung des Verfahrens in einem derartigen Fall in entsprechender Anwendung des § 114 Abs. 2 SGG für zulässig (vgl. Bundessozialgericht - BSG -, Beschluss vom 23. August 2005 - B 4 RA 28/03 R - ohne weitere Begründung und ebenfalls bezogen auf ein einziges beim BVerfG anhängiges Vorlageverfahren; ebenso für die gleich lautende Regelung des § 148 ZPO: Bundesgerichtshof - BGH -, Beschlüsse vom 28. März 1998 - VIII ZR 337/97 - und 30. März 2005 - X ZB 20/04 - jeweils veröffentlicht in juris, sowie BVerfG in NJW 2000,1484); er teilt nicht die vom 21. Senat des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg in dem Beschluss vom 29. Januar 2008 - L 21 B 1167/07 R - vertretene Auffassung.

Die entsprechende Anwendung des § 114 Abs. 2 SGG rechtfertigt sich hier aus der gleichartigen Interessenlage. Die Vorschrift will nach einhelliger Auffassung eine doppelte Prüfung derselben Frage in mehreren Verfahren verhindern. Das dient der Prozesswirtschaftlichkeit und der Vermeidung einander widersprechender Entscheidungen. Wegen dieser Vorteile nimmt das Gesetz den zeitweiligen Stillstand und die hierdurch bewirkte Verzögerung des Verfahrens in Kauf (vgl. zur gleich lautenden Regelung des § 148 ZPO: BGH, Beschluss vom 28. März 1998 - VIII ZR 337/97 -). Der Gesetzeszweck der Prozesswirtschaftlichkeit und der Vermeidung einander widersprechender Entscheidungen kommt gleichermaßen zum Tragen, wenn die Verfassungsmäßigkeit eines entscheidungserheblichen Gesetzes bereits Gegenstand einer anhängigen Richtervorlage ist. In diesem Fall erspart die Aussetzung dem Gericht die oft schwierige und zeitaufwendige verfassungsrechtliche Prüfung, die durch das BVerfG ohnehin erfolgt. Auch ist der Gefahr vorgebeugt, dass das Gericht die Verfassungsmäßigkeit des betreffenden Gesetzes bejaht und dieses demgemäß seiner Entscheidung zugrunde legt, während das BVerfG die Verfassungsmäßigkeit später verneint und damit der gerichtlichen Entscheidung nachträglich die Grundlage entzieht. Wird das entscheidungserhebliche Gesetz für nichtig erklärt, wirkt dies für alle und beeinflusst damit notwendigerweise das ausgesetzte Verfahren rechtlich (vgl. § ...

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