Entscheidungsstichwort (Thema)
Unzulässigkeit einer Untätigkeitsklage bzw. -beschwerde gegen das Sozialgericht
Orientierungssatz
1. Die vom SGG in § 88 vorgesehene Untätigkeitsklage bezieht sich allein auf die Untätigkeit einer Behörde und nicht auf die Untätigkeit des zur Entscheidung berufenen Gerichts. Eine Untätigkeitsklage gegen das Gericht ist nach dem Gesetz nicht vorgesehen. Es verstößt gegen den Grundsatz der Rechtsmittelklarheit, wenn von der Rechtsprechung außerordentliche Rechtsbehelfe außerhalb des geschriebenen Rechts geschaffen werden.
2. Seit dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des GRüGV - Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren - am 3. 12. 2011 ist eine Untätigkeitsbeschwerde nicht mehr statthaft. Der Gesetzgeber hat die neu eingeführte Verzögerungsrüge als verfahrensrechtlich ausreichend betrachtet und von einer Beschwerdemöglichkeit für den Fall der Nichtabhilfe ausdrücklich abgesehen.
Tenor
Die Beschwerde wird als unzulässig verworfen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Die sachgerecht als Beschwerde auszulegende, bei dem Landessozialgericht Berlin-Brandenburg (LSG) am 10. Mai 2016 eingegangene “Untätigkeitsklage„, mit welcher der Kläger und Beschwerdeführer sinngemäß die Verpflichtung des Sozialgerichts Frankfurt (Oder) zur Entscheidung über seine am 04. Februar 2015 dort erhobene Klage begehrt, erweist sich als unzulässig und war daher zu verwerfen (§ 202 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫ i.V.m. § 572 Abs. 2 Satz 2 Zivilprozessordnung ≪ZPO≫).
Nach § 172 Abs. 1 SGG findet die Beschwerde gegen Entscheidungen der Sozialgerichte mit Ausnahme der Urteile und gegen Entscheidungen der Vorsitzenden der Sozialgerichte statt. Eine anfechtbare Entscheidung des Sozialgerichts liegt hier nicht vor. Der Kläger rügt vielmehr eine von ihm gesehene Untätigkeit des Sozialgerichts mit einer “Untätigkeitsklage„. Die vom SGG vorgesehene Untätigkeitsklage gemäß § 88 bezieht sich jedoch allein auf die Untätigkeit einer Behörde und nicht die Untätigkeit des zur Entscheidung berufenen Gerichts. Eine “Untätigkeitsklage„ gegen das Gericht ist nach dem Gesetz hingegen nicht vorgesehen. Bereits vor dem Inkrafttreten des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (GRüGV) vom 24. November 2011 (BGBl. I, S. 2302) ist eine “Untätigkeitsbeschwerde„ nach allgemeiner Auffassung als unzulässig angesehen worden, weil es hierfür keine Rechtsgrundlage in Gesetzesform gibt (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte ≪EGMR≫, Große Kammer, Beschluss vom 08. Juni 2006 - 75529/01 -; Bundessozialgericht ≪BSG≫, Beschluss vom 19. Januar 2010 - B 11 AL 13/09 C - in juris; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschlüsse vom 08. April 2011 - L 19 AS 566/11 B -, 30. Januar 2008 - L 19 B 16/08 AS ER -, 04. März 2010 - L 6 AS 304/10 B ER -, 29. März 2010 - L 20 AS 324/10 B -, 06. Dezember 2010 - L 19 AS 1995/10 B ER- und 01. Februar 2012 - L 19 AS 111/12 B -, alle in juris; LSG Berlin-Brandenburg, Beschlüsse vom 30. Juni 2010 - L 13 SB 49/10 B - und 22. August 2011 - L 27 P 42/11 B - in juris; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. A. 2014, Rn. 35 vor § 143 m.w.N.). Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) ist verfassungsrechtlich erforderlich, dass Rechtsbehelfe in der geschriebenen Rechtsordnung geregelt und in ihren Voraussetzungen für die Bürger erkennbar sind. Es verstößt daher gegen die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Rechtsmittelklarheit, wenn von der Rechtsprechung außerordentliche Rechtsbehelfe außerhalb des geschriebenen Rechts geschaffen werden, um tatsächliche oder vermeintliche Lücken im bisherigen Rechtsschutzsystem zu schließen (BVerfG, Plenumsbeschluss vom 30. April 2003 - 1 PbvU 1/02 - und Kammerbeschluss vom 16. Januar 2007 - 1 BvR 2803/06 - jeweils in juris).
Jedenfalls aber seit dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des GRüGV am 03. Dezember 2011 ist eine Untätigkeitsbeschwerde nicht mehr statthaft (vgl. Oberlandesgericht ≪OLG≫ Brandenburg, Beschluss vom 06. Januar 2012 - 13 WF 235/11 - in juris Rn. 4; Bundesgerichtshof ≪BGH≫, Beschluss vom 20. November 2012 - VIII ZB 49/12 - in juris Rn. 3). Ausweislich der Gesetzesbegründung hat der Gesetzgeber die konkret-präventive Beschleunigungswirkung der neu eingeführten Verzögerungsrüge als verfahrensrechtlich ausreichend betrachtet und von einer Beschwerdemöglichkeit für den Fall der Nichtabhilfe ausdrücklich abgesehen, um die Belastungen für die Praxis begrenzt zu halten (BT-Drs. 17/3802, S. 16). Die von der Rechtsprechung in gravierenden Fällen zum Teil kraft richterlicher Rechtsfortbildung entwickelten Rechtsbehelfe (vgl. etwa OLG Saarbrücken, Beschluss vom 10. Oktober 2011 - 6 WF 104/11 - in juris und OLG Schleswig, NJW 2011, 1823) - namentlich eine außerordentliche Beschwerde - hat er mit Blick auf eine fehlende Rechtsbehelfsklarheit für grundsätzlich hinfällig erachtet (BT-Drs. 17/3802, S. 15, 16).
Die Kostenentscheidun...