Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialhilfe. Eingliederungshilfe. Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft. Hilfen zu selbstbestimmtem Leben in betreuten Wohnmöglichkeiten. Nichtbestehen einer Leistungs- und Vergütungsvereinbarung für die erforderlichen Leistungen. Kostenübernahme nach § 75 Abs 4 SGB 12. Ermessensreduzierung auf Null. Bedarfsdeckungsprinzip. fehlende Alternative

 

Orientierungssatz

1. Bedarf der Leistungsberechtigte neben den in einer Leistungs- und Vergütungsvereinbarung zwischen dem Sozialhilfeträger und dem Leistungserbringer geregelten Leistungen in Wohngemeinschaften für Menschen mit geistiger, körperlicher und/oder mehrfacher Behinderung, welche sich an Personen richten, die gerade keine Betreuung rund um die Uhr benötigen, zusätzlich einer Nachtwache und einer Frühbetreuung, wird die erforderliche bedarfsdeckende Leistung der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen nicht von dieser Vereinbarung erfasst.

2. In solchen Fällen kommt eine Leistungserbringung bzw Kostenübernahme nach § 75 Abs 4 SGB 12 in Betracht.

3. Die Ermessensausübung im Rahmen des § 75 Abs 4 SGB 12 hat sich letztlich auch am Bedarfsdeckungsprinzip zu orientieren. Soweit der Sozialhilfeträger dem Hilfesuchenden, der bereits durch eine Einrichtung gefördert wird, keine konkrete, zur Behebung seiner Notlage ebenfalls geeignete anderweitige Hilfemöglichkeit nachweist, muss er die Kosten grundsätzlich übernehmen, auch wenn eine Vereinbarung nach § 75 Abs 3 SGB 12 nicht vorliegt.

 

Tenor

Der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 4. November 2015 wird aufgehoben.

Der Antragsgegner wird verpflichtet, die Kosten der Unterbringung und Betreuung des Antragstellers in der Wohngemeinschaft E Str., B (Z W gGmbH) ab Einzug bis zum 30. Juni 2016, längsten bis zur Entscheidung über den Widerspruch des Antragstellers gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 30. September 2015, entsprechend den mit dem Betreuungsvertrag vom 28. Oktober 2015 in Verbindung mit dem Angebot der Z W gGmbH vom 10. Juli 2015 für die ersten sechs Monate der Unterbringung ausgewiesen Betreuungskosten zu übernehmen.

Der Antragsgegner trägt die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers des gesamten Rechtsstreits.

 

Gründe

I.

Der Antragsteller begehrt vom Antragsgegner die Gewährung von Eingliederungshilfe - EinglH - nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - SGB XII -durch Erklärung der Kostenübernahme.

Bei dem im Mai geborenen Antragsteller liegen eine Intelligenzminderung und ein frühkindlicher Autismus vor, zusätzlich ist eine Verdachtsdiagnose Schizophrenie gestellt worden. Bei ihm ist ein Grad der Schwerbehinderung von 80 mit den Merkzeichen G, H anerkannt. Nachdem der Antragsteller seit 2000 in einer Wohnstätte der S.Stiftung, (“D„) untergebracht war, wurde auch seitens des Antragsgegners im Frühjahr 2013 ein Wechsel der Einrichtung zur Betreuung des Antragstellers für notwendig erachtet. Ein Heimplatz in einer Einrichtung mit einer Spezialisierung auf Menschen mit Autismus wurde für erforderlich gehalten, stand jedoch nicht zur Verfügung. Der Antragsteller wurde daraufhin in der vollstationären Einrichtung der Behindertenhilfe der L gGmbH im Rahmen des “Betreuten Wohnens im Heim„ untergebracht und der Antragsgegner übernahm die Kosten. In dieser Einrichtung lebt der Antragsteller derzeit. Bereits zu Beginn dieser Unterbringung kam es zu fremdaggressiven Verhaltensweisen gegenüber Mitarbeitern und Mitbewohnern, so dass der Antragsteller zeitweise stationär in psychiatrischen Kliniken war. Festgestellt wurde, dass der Antragsteller in neuen Situationen und in Gruppensituationen schnell überfordert ist. Eine Unterbringung in einer vollstationären Wohneinrichtung mit einem möglichst niedrigschwelligen, wenig fordernden Hilfsangebot wurde als adäquate Unterstützungsmaßnahme eingeschätzt (Stellungnahme Dr. P, sozialpsychiatrischer Dienst des Gesundheitsamtes des Antragsgegners vom 18.07.2013). Eine geeignete vollstationäre Einrichtung stand für den Antragsteller schon damals nicht zur Verfügung. Die Wohnstätte vertrat die Auffassung, dass die damalige Lebenssituation des Antragstellers nicht dessen Bedürfnissen entsprach und auch fachlich die Einrichtung nicht für den Antragsteller geeignet war (Protokoll Klientengespräch vom 18. November 2013). Empfohlen wurde eine weitere Unterbringung in der Wohneinrichtung der L mit einer zusätzlichen Betreuung durch eine Einzelfallhilfe durch die Z W gGmbH in B - Z -, die Wohngemeinschaften, Betreutes Einzelwohnen und tagesstrukturierte Maßnahmen für Menschen im Autismusspektrum anbietet.

Mit Bescheid vom 9. April 2015 gewährte der Antragsgegner dem Antragsteller Leistungen der Eingliederungshilfe für die Zeit vom 1. April 2015 bis 31. Oktober 2015 in Form der Übernahme der Kosten für die vollstationäre Unterbringung und Betreuung im Wohnheim der L gGmbH (71.974,35 Euro), zzgl. einer externen Tagesstruktur - ABFBT - durch die Z, zzgl. einer Tagespauschale von 80,00 € werktäglich zzgl. einer Sonderbetreuung durch die Z für max. 4,7 Stu...

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