Entscheidungsstichwort (Thema)
Einstweiliger Rechtsschutz. Anordnungsgrund. Leistungen für die Vergangenheit. Folgenabwägung. Bedarfsgemeinschaft. Bedürftigkeit. Feststellungen. Effektiver Rechtsschutz. Zeitablauf. Wohngemeinschaft. Obliegenheit. Einkommen. Vermögen. Verwaltungsakt. Zeuge. Versagung. Lebensmittelgutschein. Kosten für Unterkunft und Heizung. Anspruch auf Lebensmittelgutscheine für sechs Monate im Verfahren der einstweiligen Anordnung bei ungeklärtem Einkommen der Partnerin in einer Bedarfsgemeinschaft
Leitsatz (redaktionell)
1. Ob ein Anordnungsgrund besteht, richtet sich nach den Verhältnissen im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung.
2. Liegt eine Bedarfsgemeinschaft i.S.v. § 7 Abs. 3 Nr. 3c SGB II vor, ist der Partner des Antragstellers gegenüber der Behörde zur Auskunft über sein Einkommen und Vermögen verpflichtet. Die Behörde darf die Auskunftspflicht des Partners durch Verwaltungsakt konkretisieren und mit den Mitteln der Verwaltungsvollstreckung durchsetzen.
Orientierungssatz
1. Besondere Dringlichkeit für den Erlass einer einstweiligen Anordnung (eA ) auf Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB 2 besteht für die Zeit vor der gerichtlichen Entscheidung grundsätzlich nicht, wenn nicht Umstände vorgetragen sind, wonach ohne diese Vorwegnahme der Hauptsache schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden.
2. Indizien für das Vorliegen einer Bedarfsgemeinschaft nach § 7 Abs. 3 Nr. 3 Buchst. c SGB 2 zwischen Mann und Frau bei gemeinsamem Haushalt liegen beispielsweise vor, wenn Zimmer und Betten gemeinsamen genutzt werden, der Antragsteller für die gemeinsam gefundene und von ihm renovierte Wohnung keine Miete bezahlt hat, sondern die Partnerin diese aus eigenen Mitteln aufgebracht hat, und sie darüber hinaus die Finanzierung der Kosten seines PKWs übernommen hat.
3. Der Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende darf beim von ihm angenommenen Vorliegen einer Bedarfsgemeinschaft nicht nach § 66 Abs. 1 Satz 1 SGB 1 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ablehnen, weil der AntrSt. der Aufforderung, Nachweise über Einkommen und Vermögen der Partnerin vorzulegen, nicht nachgekommen ist; der Antragsgegner muss entsprechende Auskünfte vielmehr gem. § 60 Abs. 4 Satz 1 Nr. 4 SGB 2 bei der Partnerin einholen und kann die Erteilung auch erzwingen.
4. Ist das Bestehen eines Anspruchs auf Grundsicherungsleistungen für Arbeitsuchende im Zeitpunkt der Entscheidung über eine eA ungeklärt, weil der Träger Ermittlungen unterlassen hat, so spricht die in diesem Fall gebotene Folgenabwägung des Gerichts dafür, als das unabdingbar Notwendige für die Zeit ab Zustellung des Beschlusses, längstens jedoch für sechs Monate, Lebensmittelgutscheine zu gewähren.
Normenkette
SGB I § 60 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, § 66 Abs. 1 S. 1, § 67; SGB II § 7 Abs. 1 Nr. 3c, § 9 Abs. 1 S. 1, §§ 11-12, 19 Abs. 1, § 39 Abs. 2, § 40 Abs. 1 S. 1, § 60 Abs. 4 S. 1 Nr. 1, §§ 62-63; SGB X § 21 Abs. 1 S. 2 Nr. 2, § 22 Abs. 1 S. 1; SGG § 86b Abs. 2 S. 2, § 88; ZPO § 945
Tenor
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 14. August 2007 geändert.
Der Antragsgegner wird verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig, ab Zustellung dieses Beschlusses bis zum 30. April 2008, längstens jedoch bis zu einer bestandskräftigen Entscheidung des Antragsgegners über den Antrag des Antragstellers vom 13. März 2007 auf Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts, Lebensmittelgutscheine zu gewähren.
Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
Der Antragsgegner hat dem Antragsteller die Hälfte seiner außergerichtlichen Kosten des gesamten einstweiligen Rechtsschutzverfahrens zu erstatten.
Gründe
Die gemäß § 172 und § 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Beschwerde des Antragstellers, der das Sozialgericht Berlin nicht abgeholfen hat, ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet, im Übrigen unbegründet.
1.) Für die Gewährung von Leistungen ab Eintragseingang bei dem Sozialgericht Berlin bis zum Zeitpunkt der Entscheidung des Senats im Beschwerdeverfahren fehlt es an einem nach § 86 b Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) notwendigen Anordnungsgrund. Es besteht insoweit keine besondere Dringlichkeit, die den Erlass einer einstweiligen Anordnung erforderlich machen würde.
In einem Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung beurteilt sich das Vorliegen eines Anordnungsgrundes nach dem Zeitpunkt, in dem das Gericht über den Eilantrag entscheidet; im Beschwerdeverfahren ist dies der Zeitpunkt der Beschwerdeentscheidung (Schoch in Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, Verwaltungsgerichtsordnung ≪VwGO≫, 12. Ergänzungslieferung 2005, § 123 Randnummern 165, 166 mit weiteren Nachweisen zur Parallelproblematik in § 123 VwGO). Dies folgt daraus, dass in dem Erfordernis eines Anordnungsgrundes ein spezifisches Dringlichkeitselement enthalten ist, welches im Grundsatz nur Wirkungen für die Zukunft entfalten kann. Die rückwirkende Feststellung ein...