Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Beschwerde über Nichtzulassung der Berufung. Statthaftigkeit. isolierte Aufhebung einer unzutreffenden Entscheidung über die Nichtzulassung. Erstattung außergerichtlicher Kosten
Leitsatz (amtlich)
1. Voraussetzung für eine statthafte Nichtzulassungsbeschwerde ist allein, dass das SG von einer nicht statthaften Berufung ausgegangen ist und dieses Rechtsmittel nicht zugelassen hat.
2. Im Rahmen der Nichtzulassungsbeschwerde kann eine rechtlich unzutreffende (Entscheidung über die) Nichtzulassung der Berufung isoliert aufgehoben werden. Das Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde wird in diesem Fall nicht automatisch als Berufungsverfahren fortgeführt.
3. Für einen Anspruch auf Erstattung außergerichtlicher Kosten wegen unrichtiger Sachbehandlung durch ein Gericht gibt es keine Rechtsgrundlage.
Tenor
Auf die Beschwerde der Klägerinnen wird die Nichtzulassung der Berufung in dem Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 5. April 2022 aufgehoben. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
Die von den Klägern gegen das Urteil des SG Cottbus vom 5. April 2022 eingelegte Nichtzulassungsbeschwerde führt zu der aus der Beschlussformel ersichtlichen Entscheidung.
Gemäß § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG bedarf die Berufung der Zulassung in dem Urteil des SG oder auf Beschwerde durch Beschluss des LSG, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes bei einer Klage, die eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, 750 Euro nicht übersteigt. Das gilt gemäß § 144 Abs. 1 Satz 2 SGG nicht, wenn die Berufung wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr als ein Jahr betrifft.
Gemäß § 145 Abs. 1 Satz 1 SGG kann die Nichtzulassung der Berufung durch das SG durch Beschwerde angefochten werden.
Die Nichtzulassungsbeschwerde ist zulässig, im Besonderen statthaft. Voraussetzung ist insoweit allein, dass das SG von einer nicht statthaften Berufung ausgegangen war und dieses Rechtsmittel nicht zugelassen hat.
Ob diese Rechtsauffassung zutrifft, ist für die Statthaftigkeit des Rechtsmittels ohne Belang. Verfahrensbeteiligte, die das in einer Rechtsmittelbelehrung als gegeben bezeichnete Rechtsmittel einlegen, haben ein berechtigtes Interesse daran, dass das angerufene Gericht, welches sich allein über die Zulässigkeit eines bei ihm eingelegten Rechtsmittel äußern kann, darüber eine verbindliche Entscheidung trifft.
Würde angenommen, dass im Rahmen der Entscheidung über die Nichtzulassungsbeschwerde kein isolierter Ausspruch über die Rechtmäßigkeit der Nichtzulassung der Berufung möglich wäre, vielmehr - alle weiteren Zulässigkeitsvoraussetzungen wie Form und Frist (§ 145 Abs. 1 Satz 2 SGG) unterstellt - nur die Verwerfung als unzulässig bei objektiv gegebener „Berufungsfähigkeit" oder eine Sachentscheidung über die Zulassungsgründe des § 144 Abs. 2 SGG in Betracht käme, bliebe eine Rechtsschutzlücke. Diese durch ein gesetzlich nicht geregeltes Rechtsmittel außerhalb der Nichtzulassungsbeschwerde zu schließen, widerspräche dem Prinzip der Rechtsmittelklarheit. Es verlangt, dass die gesetzlichen Voraussetzungen für Rechtsmittel genau definiert und so ausgelegt werden, dass sie nicht ineffektiv werden (dazu stellvertretend BVerfG, Kammerbeschluss vom 27. Oktober 2015 - 2 BvR 3071/14 -, Rn 12 m.w.Nachw.).
Der Wortlaut des § 145 Abs. 1 Satz 1 SGG lässt die Auslegung zu, dass im Rahmen der Nichtzulassungsbeschwerde - als „Minus“ zu der vorrangig mit dem Rechtsmittel beabsichtigten Zulassung der Berufung - eine rechtlich unzutreffende (Entscheidung über die) Nichtzulassung der Berufung auch deshalb aufgehoben werden kann, weil das SG wegen kraft Gesetzes gegebener Statthaftigkeit der Berufung zu solch einer Entscheidung gar nicht befugt war. Für eine Aufspaltung in das gesetzlich vorgesehene Rechtsmittel der Nichtzulassungsbeschwerde und einen gesetzlich nicht geregelten Rechtsbehelf, der allein dem Zweck dient, die Nichtzulassung der Berufung in der erstinstanzlichen Entscheidung zu beseitigen, gibt es keinen Grund (s. im gleichen Sinn unter anderem den veröffentlichten Beschluss des mit dem 32. Senat personenidentischen 22. Senats vom 19. November 2015 - L 22 R 744/11 NZB -).
Das Rechtsmittel der Kläger ist jedoch nur insofern begründet, als die Nichtzulassung der Berufung aufzuheben war. Entgegen den Ausführungen des SG und der Rechtsmittelbelehrung in dem angefochtenen Urteil war die Berufung jedenfalls gemäß § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG kraft Gesetzes zulässig.
Auf eine Geldleistung gerichtet sind auch solche Verwaltungsakte, durch die wie im vorliegenden Fall Erstattungsforderungen festgesetzt werden (unbestritten, s. stellvertretend BSG, Urteil vom 24. Juni 2020 - B 4 AS 10/20 R -, Rn 18).
Der Schwellenwert von 750,-- Euro für eine gemäß § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG zulassungsfreie Berufung wird überschritten. Die angefochtenen Bescheide vom 28. Juli 2014, 22. Nov...