Entscheidungsstichwort (Thema)

Leistungsausschluss. spanische Staatsangehörigkeit. Europäisches Fürsorgeabkommen. Vorbehalt. Wiener Vertragsrechtskonvention. Grundsicherung für Arbeitsuchende: Leistungsgewährung an EU-Ausländer. Wirkungen des Fürsorgeabkommens. Leistungshöhe bei einer vorläufigen Leistungsgewährung im Eilverfahren

 

Orientierungssatz

1. Im einstweiligen Rechtsschutzverfahren über die Gewährung von Grundsicherungsleistungen an EU-Ausländer ist wegen der Möglichkeit einer Europarechtswidrigkeit des in § 7 Abs. 1 S. 2 SGB 2 geregelten Leistungsausschlusses jedenfalls bei einem Staatsangehörigen aus einem Mitgliedsstaat des Europäischen Fürsorgeabkommens eine Folgenabwägung vorzunehmen und insoweit bei Vorliegen der weiteren Anspruchsvoraussetzungen eine vorläufige Leistungsgewährung anzuordnen. Dabei kann zur Vermeidung einer Vorwegnahme der Hauptsache ein Abzug von 20 Prozent auf den Regelbedarf angemessen sein.

2. Die Regelung in § 7 Abs. 1 S. 2 SGB 2 über den Leistungsausschluss für Ausländer stellt keinen wirksamen Vorbehalt im völkerrechtlichen Sinne dar, der die Anwendung der Regelungen des Europäischen Fürsorgeübereinkommens ausschließt.

 

Tenor

Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 11. April 2012 geändert. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ab dem 01. April 2012 bis zur Entscheidung in der Hauptsache, längstens jedoch bis zum 30. September 2012 in Höhe von 299,20 Euro monatlich zuzüglich Kosten der Unterkunft und Heizung in Höhe von 346,72 Euro monatlich zu zahlen. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

Der Antragsgegner trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers auch für das Beschwerdeverfahren.

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskosthilfe für das Beschwerdeverfahren unter Beiordnung des Prozessbevollmächtigten des Antragstellers wird abgelehnt.

 

Gründe

Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts, mit dem er die Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und die Ablehnung des Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt, ist zulässig, aber im Wesentlichen nicht begründet. Das Sozialgericht hat ihn grundsätzlich zu Recht verpflichtet, dem Antragsteller Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts einschließlich der Kosten der Unterkunft und Heizung für den Zeitraum vom 01. April 2012 bis zum 30. September 2012 zu zahlen.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung ist, dass sowohl ein Anordnungsanspruch (d. h. ein nach der Rechtslage gegebener Anspruch auf die einstweilig begehrte Leistung) wie auch ein Anordnungsgrund (im Sinne der Eilbedürftigkeit einer vorläufigen Regelung) bestehen. Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i. V. m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung ≪ZPO≫). Wegen des vorläufigen Charakters einer einstweiligen Anordnung soll durch sie eine endgültige Entscheidung in der Hauptsache grundsätzlich nicht vorweggenommen werden. Bei seiner Entscheidung kann das Gericht sowohl eine Folgenabwägung vornehmen wie auch eine summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache anstellen. Drohen aber ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, dann dürfen sich die Gerichte nur an den Erfolgsaussichten orientieren, wenn die Sach- und Rechtslage abschließend geklärt ist. Ist dem Gericht dagegen eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist allein anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden (Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 12. Mai 2005 - 1 BvR 596/05 -). Handelt es sich - wie hier - um Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende, die der Sicherstellung eines menschenwürdigen Lebens dienen und damit das Existenzminimum absichern, muss die überragende Bedeutung dieser Leistungen für den Empfänger mit der Folge beachtet werden, dass ihm im Zweifel die Leistungen - ggf. vermindert auf das absolut erforderliche Minimum - aus verfassungsrechtlichen Gründen vorläufig zu gewähren sind (vgl. Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 22. Januar 2007 - L 19 B 687/06 AS ER -, zitiert nach juris).

Ausgehend von diesen Grundsätzen sind die Anspruchsvoraussetzungen für die Gewährung von Arbeitslosengeld 2 nach § 7 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) ab dem 01. April 2012 gegeben, denn der 1984 geborene, erwerbsfähige Antragsteller hat glaubhaft gemacht, seinen Lebensunterhalt nicht ausreichend aus zu berücksichtigendem Einkommen oder Vermögen sichern zu können (§§ 7, 8, 9 SGB II). ...

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