Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliches Verfahren: Voraussetzung der Annahme einer fiktiven Klagerücknahme. Begründungspflicht einer sozialgerichtlichen Klage

 

Orientierungssatz

1. Eine ordnungsgemäße Klage liegt bereits dann vor, wenn sich aus dem Klageschriftsatz Kläger, Beklagter und eine Bezeichnung des Gegenstandes des Klagebegehrens ergibt. Eines bestimmten Antrags und einer Begründung bedarf es dagegen nicht.

2. Eine Betreibensaufforderung durch das Sozialgericht kann nicht lediglich allgemein auf die Vorlage einer Klagebegründung gerichtet werden. Eine wirksame Betreibensaufforderung muss vielmehr konkret vorzunehmende Mitwirkungshandlungen benennen, die für den Fortgang des Verfahrens und insbesondere die Klärung des Sachverhalts erforderlich sind, vgl. BSG, Urteile vom 01. Juli 2010 - B 13 R 58/09 R sowie B 13 R 74/09 R..

 

Tenor

Auf die Beschwerde der Klägerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 14. Juli 2011 abgeändert.

Der Klägerin wird mit Wirkung vom 17. Juni 2010 Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwältin JK bewilligt. Monatsraten oder Beträge aus dem Vermögen sind nicht zu leisten.

Kosten des Beschwerdeverfahrens werden nicht erstattet.

 

Gründe

I.

Mit der am 4. Juni 2010 eingegangenen Klage begehrt die Klägerin unter Aufhebung des Bescheides des Beklagten vom 11. September 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. April 2010 die Feststellung eines Grades der Behinderung (GdB) von mindestens 50 sowie die Zuerkennung des Merkzeichens “G„ (erhebliche Gehbehinderung). Gleichzeitig ersuchte sie um Bewilligung von Prozesskostenhilfe (PKH) unter Beiordnung ihrer Prozessbevollmächtigten. Die Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Klägerin ging am 17. Juni 2010 ein.

Das Sozialgericht (SG) hat die Klägerin mit richterlicher Verfügung vom 18. Juni 2010 aufgefordert, die angekündigte Klagebegründung binnen eines Monats vorzulegen. Mit richterlichen Verfügungen vom 2. August 2010 und 6. September 2010 hat das SG an die Übersendung der Klagebegründung erinnert und die Klägerin mit richterlicher Verfügung vom 8. Oktober 2010, ihrer Prozessbevollmächtigten zugestellt mit Postzustellungsurkunde am 13. Oktober 2010, gemäß § 102 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) aufgefordert das Verfahren zu betreiben, nachdem seit Klageeingang keine Äußerung mehr erfolgt sei und die Klage trotz Ankündigung und mehrfacher Erinnerung nicht begründet worden sei. Die Prozessbevollmächtigte der Klägerin teilte mit Schriftsatz vom 14. Oktober 2010 mit, dass das Rechtsschutzbedürfnis fortbestehe und die Klägerin die Klage begründen werde, sobald alle erforderlichen Angaben und Unterlagen vorliegen, wofür um angemessene Fristverlängerung gebeten werde. Das SG wies die Klägerin darauf hin, dass eine Verlängerung der gesetzlichen Frist nicht in Betracht käme. Auf die richterliche Verfügung vom 24. Januar 2011 ist das Verfahren als erledigt ausgetragen worden. Die Klägerin hat die Klage mit Schriftsatz vom 31. Januar 2011 begründet und an die ausstehende Entscheidung über den Antrag auf Bewilligung von PKH erinnert. Unter dem 9. Februar 2011 beantragte die Klägerin die Fortsetzung des Verfahrens.

Mit Beschluss vom 14. Juli 2011 lehnte das SG den Antrag auf Bewilligung von PKH ab. Die Klage gelte gemäß § 102 Abs. 1 Satz 1 SGG als zurückgenommen. Überdies seien auch hinreichende Erfolgsaussichten zum Zeitpunkt der erstmaligen Bewilligungsreife des PKH-Gesuchs, bei Eingang der Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse, mangels Klagebegründung nicht gegeben gewesen. Dagegen hat die Klägerin am 22. Juli 2011 Beschwerde zum Landessozialgericht erhoben.

II.

Die gemäß §§ 172, 173 SGG statthafte sowie form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde ist zulässig und begründet. Das SG hat die Bewilligung von PKH in dem angefochtenen Beschluss vom 14. Juli 2011 zu Unrecht abgelehnt.

Die Klägerin hat mit Wirkung ab 17. Juni 2010, dem Eingang ihrer Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse, Anspruch auf Bewilligung von PKH, da die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint sowie Kostenarmut gegeben ist (§ 73 a Abs. 1 Satz 1 SGG i. V. m. § 114 ff. Zivilprozessordnung -ZPO-). Der unbestimmte Rechtsbegriff der hinreichenden Erfolgs-aussicht ist nach der ständigen Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) verfassungskonform auszulegen. Artikel 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG) i. V. m. dem Rechtsstaatsprinzip nach Artikel 20 Abs. 3 GG und dem aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG folgenden Gebot effektiven Rechtsschutzes gebietet eine weitgehende Angleichung der Situation von Bemittelten und Unbemittelten bei der Verwirklichung des Rechtsschutzes. Hierbei braucht der Unbemittelte allerdings nur einem solchen Bemittelten gleichgestellt zu werden, der seine Prozessaussichten vernünftig abwägt und dabei auch das Kostenrisiko berücksichtigt. Dementsprechend darf die Prüfung der Erfolgsaussichten jeden...

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