Entscheidungsstichwort (Thema)

Bewilligung von Leistungen der Sozialhilfe für einen von Leistungen der Grundsicherung ausgeschlossenen Unionsbürger im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes

 

Orientierungssatz

1. Ein Unionsbürger, der nicht über ein materielles Aufenthaltsrecht verfügt, ist nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB 2 von Leistungen der Grundsicherung ausgeschlossen.

2. Der gemeinschaftsrechtliche Niederlassungsbegriff als selbständiger Erwerbstätiger nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG setzt die wirtschaftliche Tätigkeit mittels einer festen Einrichtung in einem anderen Mitgliedstaat auf unbestimmte Zeit voraus (EuGH Urteil vom 25. 7. 1991, C-221/89). Das Angebot von Obdachlosenzeitungen und das Sammeln von Pfandflaschen stellt keine Teilnahme am wirtschaftlichen Warenaustausch dar.

3. Im einstweiligen Rechtsschutz sind dem von Leistungen des SGB 2 Ausgeschlossenen im Wege der Folgenabwägung nach § 23 Abs. 1 S. 3 SGB 12 Leistungen des SGB 12 zuzuerkennen, wenn er seinen Lebensunterhalt nicht aus eigenen Kräften und Mitteln bestreiten kann. Voraussetzung hierzu ist u. a., dass er länger als sechs Monate in Deutschland lebt.

4. Ist im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes nicht feststellbar, dass er nach Deutschland eingereist ist, um Sozialhilfe zu erlangen, § 23 Abs. 3 S. 1 1. Alt. SGB 12, so bleiben entsprechend erforderliche Ermittlungen dem Hauptsacheverfahren vorbehalten.

 

Tenor

Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 30. Juni 2016 geändert.

Der Beigeladene wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin für den Zeitraum vom 26. September 2016 bis 31. Dezember 2016 vorläufig Hilfe zum Lebensunterhalt, längstens jedoch bis zur bestandskräftigen Entscheidung über den Antrag der Antragstellerin vom 12. August 2016, in Höhe von 204,00 Euro monatlich (zeitlich anteilig für September 2016) zu gewähren.

Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

Der Beigeladene hat der Antragstellerin die Hälfte der notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten. Im Übrigen haben die Beteiligten einander keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Der Antrag der Antragstellerin auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren unter Beiordnung ihrer Verfahrensbevollmächtigten wird abgelehnt.

 

Gründe

Die Beschwerde ist statthaft und zulässig erhoben. Sie ist hinsichtlich einer Verpflichtung des Beigeladenen zur Gewährung von Sozialhilfeleistungen im tenorierten Umfang auch begründet. Insoweit hat das Sozialgericht den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu Unrecht abgelehnt.

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist nach § 86 b Abs. 2 Satz 1 und 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) statthaft und zulässig gestellt. Danach kann das Gericht der Hauptsache, soweit ein Fall des § 86 b Abs. 1 SGG nicht vorliegt, auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen. Das Verfahren nach § 86 b Abs. 1 SGG ist vorliegend nicht einschlägig, weil die Antragstellerin ihr Rechtsschutzziel nicht durch die Beendigung der Wirkungen eines Verwaltungsaktes erreichen kann, sondern gerade noch nicht durch Verwaltungsakt bewilligte Leistungen begehrt. Der Zulässigkeit des Antrags steht ungeachtet dessen, dass hier ohnehin der Beigeladene zu verpflichten ist, auch keine bestandskräftige Entscheidung des Antragsgegners entgegen. Die Antragstellerin hat gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 9. Mai 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. Juli 2016 Klage erhoben. Sie hat zudem vorgetragen, gegen den weiteren Ablehnungsbescheid des Antragsgegners vom 30. August 2016 Widerspruch einzulegen. Gegenwärtig ist der Bescheid jedenfalls (noch) nicht bestandskräftig, weil die Widerspruchsfrist nicht abgelaufen ist. Der Antrag der Antragstellerin bei dem Beigeladenen vom 12. August 2016 ist noch gar nicht beschieden.

Der Antrag ist nicht begründet, soweit er sich gegen den Antragsgegner richtet.

Ein Anspruch auf Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis ist nur gegeben, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Dazu muss der Antragsteller gemäß § 86 b Abs. 2 Satz 4 SGG in Verbindung mit § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung (ZPO) einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund glaubhaft machen. Vom Bestehen eines Anordnungsanspruchs ist auszugehen, wenn nach (summarischer) Prüfung die Hauptsache Erfolgsaussicht hat. Ein Anordnungsgrund liegt vor, wenn dem Antragsteller unter Abwägung seiner sowie der Interessen Dritter und des öffentlichen Interesses nicht zumutbar ist, die Hauptsacheentscheidung abzuwarten. Eine einstweilige Anordnung ist jedoch auch dann zu treffen, wenn der Anordnungsanspruch nach Auffassung des Gerichts nicht glaubhaft gemacht ist, die Erfolgsaussichten in der Hauptsache vielmehr als offen zu bewerten sind. Zur Vermeidung des Eintritts unwiederbringlicher Recht...

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