Entscheidungsstichwort (Thema)

Europarechtskonformität des Ausschlusses von Leistungen der Grundsicherung für nicht erwerbstätige Unionsbürger

 

Orientierungssatz

1. Der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB 2 ist nach Art. 20 Abs. 3 GG als geltendes Recht anzuwenden. Die Europarechtskonformität der Regelung ist mit Urteil des EuGH vom 15. 9. 2015 geklärt, vgl. C-67/14. Die Gewährung von Sozialleistungen an Unionsbürger, die wirtschaftlich nicht aktiv sind, können von dem Erfordernis eines rechtmäßigen Aufenthalts abhängig gemacht werden.

2. Art. 70 Abs. 4 der VO 883/2004 regelt, dass die besonderen beitragsunabhängigen Leistungen nach den Rechtsvorschriften des Wohnortlandes geleistet werden, vgl. EuGH vom 11. November 2014 - C-333/13. Damit kann der Zugang zu diesen Leistungen für nicht erwerbstätige Unionsbürger von einem Recht zum Aufenthalt nach der RL 2004/38 abhängig gemacht werden.

3. Durch die Abgrenzung der Leistungssysteme in § 21 SGB 12 nach der Erwerbsfähigkeit und die Ausschlusswirkung bei einem Anspruch nach dem System des SGB 2 dem Grunde nach bei Erwerbsfähigkeit scheidet ein Anspruch auf Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem SGB 12 auch für solche Personen aus, die erwerbsfähig sind, deren Anspruch aus anderen rechtlichen Gründen ausgeschlossen ist.

4. Ist ein Unionsbürger in der Lage, ohne weiteres in sein Herkunftsland zu reisen, um dort existenzsichernde Leistungen in Anspruch zu nehmen, ist der Staat im Rahmen seiner Gewährleistungsverpflichtung allenfalls gehalten, Reise- und Verpflegungskosten zur Existenzsicherung vorzuhalten.

 

Tenor

Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 26. August 2015 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind für das Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.

Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.

 

Gründe

Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG kann das Gericht einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Die Antragsteller müssen glaubhaft machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i. V. m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung - ZPO), dass ihnen ein Anspruch auf die geltend gemachte Leistung zusteht (Anordnungsanspruch) und dass das Abwarten einer gerichtlichen Entscheidung in einem Hauptsacheverfahren für sie mit unzumutbaren Nachteilen verbunden wäre (Anordnungsgrund).

Soweit der Antragsteller mit dem beim Sozialgericht gestellten Antrag und mit der Beschwerde die Verpflichtung des Antragsgegners zur Gewährung von Leistungen der Grundsicherung nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - SGB II - “auf Dauer„ begehrt, besteht weder ein Anordnungsanspruch noch ein Anordnungsgrund. Leistungen der Grundsicherung nach dem SGB II werden nicht als Dauerleistung gewährt. Vielmehr sollen die Leistungen jeweils nur für sechs Monate gewährt werden (§ 41 Abs. 1 Satz 4 SGB II), nur in Ausnahmefällen lässt das Gesetz eine Gewährung auf Zeit bis zu zwölf Monaten zu (§ 41 Abs. 1 Satz 5 SGB II). Eine Regelungsanordnung nach § 86 b Abs. 2 SGG kommt dann in Betracht, wenn sie zur Abwendung wesentlicher Nachteile erforderlich ist, weil andernfalls die durch Zeitablauf bis zur Entscheidung in der Hauptsache eintretenden Nachteile nicht abgewendet werden können. Es handelt sich daher bei einer einstweiligen Anordnung um eine jedenfalls bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache zu befristende Regelung, die jedenfalls eine monatlich zu gewährende Leistung auf Dauer nicht beinhalten kann.

Der Antragsteller hat aber auch im Übrigen einen Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht. Er hat nämlich derzeit keinen Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung nach dem SGB II.

Der Antragsteller unterfällt als polnischer Staatsbürger dem Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II.

Danach sind Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und deren Familienangehörige vom Leistungsbezug nach dem SGB II ausgenommen. Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt.

Ein Aufenthaltsrecht ergibt sich vorliegend nicht aus § 2 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU) in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des Freizügigkeitsgesetzes/EU und weiterer Vorschriften vom 2. Dezember 2014 (BGBl. I, S. 1922). Gemäß § 2 Abs. 1 FreizügG/EU haben freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger und ihre Familienangehörigen das Recht auf Einreise und Aufenthalt nach Maßgabe dieses Gesetzes. Gemeinschaftsrechtlich freizügigkeitsberechtigt sind nach § 2 Abs. 2 FreizügG/EU u. a. Unionsbürger, die sich als Arbeitnehmer, oder zur Berufsausbildung aufhalten wollen (Nr. 1) oder Unionsbürger, die sich zur Arbeitssuche aufhalten, für bis zu sechs Monate und darüber hinaus nur, solange sie nachweisen können, dass sie weiterhin Arbeit suchen und begründete Aussicht haben, eingestellt zu werden (Nr. 1a) oder wenn sie zur Ausübung einer selbständigen Erwerbstätigkeit berech...

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