Entscheidungsstichwort (Thema)
Bewilligung von Leistungen der Grundsicherung aufgrund des nachwirkenden Aufenthaltsrechts eines Unionsbürgers als Arbeitnehmer
Orientierungssatz
1. Dem Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 S. 2 SGB 2 für einen Unionsbürger steht nicht entgegen, wenn sich dessen Aufenthaltsrecht nicht allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt.
2. Bei unfreiwilliger durch die Arbeitsagentur bestätigter Arbeitslosigkeit nach weniger als einem Jahr Beschäftigung bleibt das Aufenthaltsrecht als Arbeitnehmer aus § 2 Abs. 2 Nr. 1 1. Alt. FreizügG während der Dauer von sechs Monaten unberührt.
3. Arbeitnehmer i. S. des Freizügigkeitsrechts ist auch derjenige, der nur über ein geringfügiges, das Existenzminimum nicht deckendes Einkommen verfügt. Eine Tätigkeit von fünf Stunden wöchentlich bei einer Entlohnung von 200.- €. kann nicht als unwesentlich und untergeordnet angesehen werden, wenn sie regelmäßig und dauerhaft ausgeübt wird.
Tenor
Auf die Beschwerden der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 12. Mai 2015 abgeändert.
Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig ab dem 01. Juli 2015 bis zum 30. September 2015, längstens bis zur Entscheidung des Antragsgegners über den Widerspruch gegen den Bescheid vom 19. Januar 2015, Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts einschließlich der Kosten der Unterkunft und Heizung in Höhe von monatlich 634,20 Euro zu leisten.
Im Übrigen wird die Beschwerde im einstweiligen Rechtsschutz-verfahren zurückgewiesen.
Der Antragsgegner hat der Antragstellerin die außergerichtlichen Kosten des gesamten einstweiligen Rechtsschutzverfahrens in Höhe von 80 v.H. zu erstatten.
Der Antragstellerin wird auch für das Verfahren vor dem Sozialgericht Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt I S, Hstraße, B, beigeordnet.
Gründe
Die zulässigen Beschwerden sind teilweise begründet.
Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG kann das Gericht einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Die Antragsteller müssen glaubhaft machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i. V. m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung - ZPO), dass ihnen ein Anspruch auf die geltend gemachte Leistung zusteht (Anordnungsanspruch) und dass das Abwarten einer gerichtlichen Entscheidung in einem Hauptsacheverfahren für sie mit unzumutbaren Nachteilen verbunden wäre (Anordnungsgrund).
Dabei scheitert der Erlass einer einstweiligen Anordnung vorliegend entgegen der Auffassung des Sozialgerichts in der angefochtenen Entscheidung für Zeiträume ab Juni 2015 nicht bereits daran, dass die Antragstellerin nach Aktenlage zuletzt im Dezember 2014 einen Leistungsantrag gestellt hat, den der Antragsgegner mit Bescheid vom 19. Januar 2015 abschlägig beschieden hat. Zwar sollen nach § 41 Abs. 1 Satz 4 Sozialgesetzbuch Zweites Buch - SGB II - Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts jeweils nur für sechs Monate bewilligt werden. Daraus folgt jedoch nicht, dass nach vollständiger und endgültiger Ablehnung eines Leistungsantrages durch den Antragsgegner eine gerichtliche Verpflichtung im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nur für Zeiträume innerhalb von sechs Monaten ab Antragstellung zulässig wäre. Die Zulässigkeit eines Antrages nach § 86b Abs. 2 SGG setzt die Befassung des Leistungsträgers mit dem Antrag des Betroffenen voraus (vgl. Wahrendorf in: Roos/Wahrendorf, SGG, 2014, § 86 b, Rn. 172; Lowe in: Hintz/Lowe, SGG, 2012, § 86b, Rn. 107), was vorliegend erfüllt ist. Streitgegenstand eines Hauptsacheverfahrens ist der Anspruch auf Gewährung von Leistungen nach dem SGB II ab dem Antragsmonat bis zum Zeitpunkt einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren; dieser Anspruch kann daher grundsätzlich auch im einstweiligen Rechtsschutzverfahren zulässigerweise gesichert werden. Eine Begrenzung des Streitgegenstandes im Hauptsacheverfahren bei einer Leistungsablehnung (und damit auch eine Begrenzung der Zulässigkeit einer Regelungsanordnung nach § 86b Abs. 2 SGG) tritt erst durch eine weitere Antragstellung und Bescheidung der Behörde ein (vgl. Bundessozialgericht - BSG - v. 02.12.2014 - B 14 AS 66/13 R - juris, Rn. 9; v. 02.02. 2010 - B 8 SO 21/08 R - juris, Rn. 9), wofür vorliegend jedoch nichts erkennbar ist.
Die Antragstellerin hat einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Sie hat glaubhaft gemacht, einen Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - SGB II - zu haben.
Die Antragstellerin, die im September 2011 ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Berlin genommen hat, ist erwerbsfähig im Sinne des § 8 SGB II. Sie ist nach ihren glaubhaften Angaben derzeit hilfebedürftig, da sie nicht über Einkommen oder Vermögen verfügt, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten (§ 9 Abs. 1 SGB II). Damit sind die Voraussetzungen für einen Leistungsbezug nach §§ 7 Abs. 1, 19 ff. SGB II gegeb...