Entscheidungsstichwort (Thema)

Folgenabwägung. ungeklärte Rechtsfragen. Arbeitnehmerfreizügigkeit. Leistungsausschluss

 

Leitsatz (redaktionell)

Im Hinblick darauf, dass zu der Frage, ob die Ausschlussnorm des § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II europarechtskonform ist, eine Vielfalt von Meinungen in Literatur und Rechtsprechung vertreten wird, erscheint es bei der im Rahmen des § 86b Abs. 2 S. 2 SGG zu treffenden Folgenabwägung zumindest möglich, dass einem bulgarischen Antragsteller ein Recht auf Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts zusteht.

Verfügt der Antragsteller über eine Arbeitsgenehmigung nach § 284 SGB III, kann ein erlaubter Aufenthalt gemäß § 2 Abs. 1 in in Verbindung mit Abs. 2 Nr. 1 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU) vorliegen. § 13 FreizügG/EU ist bei Vorliegen einer Arbeitsgenehmigung- EU nicht einschlägig.

 

Normenkette

SGB II § 7 Abs. 1 S. 2; FreizügG/EU § 2 Abs. 2, §§ 5, 13; SGB III § 284; SGG § 86b Abs. 2 S. 2

 

Tenor

Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 3. August 2010 geändert.

Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin vorläufig ab 1. Dezember 2010 bis zum 31. Mai 2011 (längstens jedoch bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache) Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes (einschließlich der Leistungen für Unterkunft und Heizung) nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) zu zahlen, wobei bei der Ermittlung der von der Bundesagentur für Arbeit zu erbringenden Leistungen nur eine Regelleistung in Höhe von 85% zu berücksichtigen ist. Die mit Beschluss vom 14. Oktober 2010 für die Zeit vom 14. Oktober 2010 bis zum 30. November 2010 vorläufig bewilligten Leistungen bleiben unberührt.

Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

Der Antragsgegner hat der Antragstellerin die Kosten des gesamten einstweiligen Anordnungsverfahrens zu erstatten. Kosten für das Beschwerdeverfahren bezüglich der Ablehnung der Bewilligung von Prozesskostenhilfe für die erste Instanz sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I.

Die Antragstellerin begehrt von dem Antragsgegner Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II.

Die 1957 geborene Antragstellerin, die bulgarische Staatsangehörige ist, stellte am 29. März 2010 bei dem Antragsgegner einen Antrag auf Bewilligung von Leistungen. Sie legte die Freizügigkeitsbescheinigung gemäß § 5 Freizügigkeitsgesetz/EU, ausgestellt durch das Landesamt für Bürger- und Ordnungsangelegenheiten, Ausländerbehörde, vom 2. März 2010 vor. Darin wurde bescheinigt, dass sie sich am 9. Juni 2008 angemeldet habe und Staatsangehörige eines Mitgliedsstaates der Europäischen Union und nach Maßgabe des Freizügigkeitsgesetzes/EU zur Einreise und zum Aufenthalt in der Bundesrepublik berechtigt sei. Weiter legte sie die Meldebestätigung des Bezirksamts von Berlin vor, wonach sie sich am 9. Juni 2008 im K in Berlin- angemeldet hat. Weiter legte sie eine Meldebescheinigung des Bezirksamtes von Berlin vom 18. Juli 2008 vor, wonach sie vom 9. März bis 31. Juli 2002 in Berlin in der S gemeldet war und vom 30. Januar 2003 bis zum 8. Juni 2008 in Berlin in der B . Weiter legte die Antragstellerin eine Arbeitsgenehmigung-EU vor, ausgestellt von der Agentur für Arbeit, am 30. Dezember 2009. Diese Arbeitsberechtigung-EU gilt für eine berufliche Tätigkeit jeder Art und zwar ab dem 30. Dezember 2009 unbefristet.

In der Anlage zur Feststellung der angemessenen Kosten für Unterkunft und Heizung (KdU) gab die Antragstellerin an, eine Ein-Zimmer-Wohnung für eine Gesamtmiete von 155,00 Euro monatlich zu bewohnen. Sie legte dazu den Untermietvertrag mit Frau A vor, nach dem diese ihr Wohnraum ab 1. Januar 2010 zu einer Miete von 155,67 Euro warm vermietet. In der Miete sind danach 59,00 Euro Heizkosten für Zentralheizung enthalten. Bei der Vermieterin handelt es sich um die Tochter der Antragstellerin, die mit ihrem Kind selbst in dem Haushalt lebt.

Mit Bescheid vom 16. April 2010 hat es der Antragsgegner abgelehnt, der Antragstellerin Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts zu bewilligen. Zur Begründung hat er angegeben, dass sich die Antragstellerin allein aus dem Zweck der Arbeitsuche in der Bundesrepublik Deutschland aufhalte und Leistungen deshalb gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II ausgeschlossen seien. Weiter sei aus den eingereichten Unterlagen nicht ersichtlich, dass die Antragstellerin mindestens ein Jahr in Deutschland beschäftigt bzw. selbständig tätig gewesen sei. Eine zeitliche Obergrenze für den Ausschluss von Leistungen nach dem SGB II ergebe sich aus § 4 a Freizügigkeitsgesetz. Habe sich der Unionsbürger seit fünf Jahren ständig rechtmäßig in der Bundesrepublik aufgehalten, genieße er ein Daueraufenthaltsrecht. Da die Berechnung des Fünf-Jahres-Zeitraums erst ab Beitritt Bulgariens, also ab 1. Januar 2007 möglich sei, könne sich ein erstmaliger Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes erst ab dem 1. Janua...

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