Entscheidungsstichwort (Thema)
Anspruch auf Entschädigung wegen überlanger gerichtlicher Verfahrensdauer
Orientierungssatz
1. Nach § 198 Abs. 1 S. 1 GVG wird angemessen entschädigt, wer infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil erleidet. Eine Entschädigung erhält er nur dann, wenn er bei dem mit der Sache befassten Gericht die Dauer des Verfahrens gerügt hat. Die Verzögerungsrüge muss unverzüglich erhoben werden.
2. Beurteilungsmaßstab für die Verfahrensdauer ist nach der Legaldefinition in § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG das gesamte Verfahren bis zu seinem rechtskräftigen Abschluss. Die etwas verzögerte Bearbeitung in der einen Instanz kann durch eine besonders zügige Beantwortung in einer anderen Instanz kompensiert werden.
3. Hinsichtlich der Angemessenheit der Verfahrensdauer kommt es auf die Umstände des Einzelfalls, insbesondere die Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens sowie das Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritten an. Auf die chronische Überlastung eines Gerichts, länger bestehende Rückstände oder eine allgemein angespannte Personalsituation kann nicht abgestellt werden.
4. Der Entschädigungsanspruch nach § 198 GVG setzt eine deutliche Überschreitung der äußersten Grenze des Angemessenen voraus. Die durch die lange Verfahrensdauer verursachte Belastung verlangt einen entsprechenden Schweregrad. Bei einem mehrjährigen, sich über zwei Instanzen erstreckenden Rentenverfahren, welches durch eine umfangreiche Beweisaufnahme mit Einholung mehrerer Gutachten gekennzeichnet ist, wahrt eine Verfahrensverzögerung von vier Monaten noch den entschädigungslos hinzunehmenden Toleranzrahmen.
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Der Streitwert wird auf 2.400,00 Euro festgesetzt.
Tatbestand
Der Kläger begehrt eine Entschädigung wegen unangemessener Dauer des beim Landessozialgericht Berlin-Brandenburg (LSG) unter dem Aktenzeichen L 4 R 319/08 geführten und inzwischen abgeschlossenen Verfahrens.
Dem Ausgangsverfahren lag folgender Sachverhalt zugrunde:
Mit Bescheid vom 11. November 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. April 2003 lehnte die Landesversicherungsanstalt Berlin (LVA) den Antrag des Klägers vom 02. September 2002 auf Rente wegen voller bzw. teilweiser Erwerbsminderung gemäß §§ 43 und 240 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) ab.
Hiergegen wandte sich der Kläger mit seiner am 19. Mai 2003 bei dem Sozialgericht Berlin (SG) eingegangenen Klage, die unter dem Az. S 27 RJ 816/03 registriert wurde, und begehrte die Gewährung einer Rente wegen voller, hilfsweise teilweiser Erwerbsminderung, hilfsweiser teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit.
Zusammen mit der Übersendung von Klageerwiderung und Rentenakten teilte der damalige Beklagte am 01. Juli 2003 (Eingang beim SG) mit, dass der Kläger derzeit an einer stationären Rehabilitationsmaßnahme teilnehme, über deren Fortgang berichtet werde. Im Juli 2003 nahm der Klägerbevollmächtigte Einsicht in die Rentenakte. Mit Schreiben vom 17. September 2003 teilte der Kammervorsitzende mit, dass die Einholung eines orthopädischen Sachverständigengutachtens beabsichtigt sei und gab der Klägerseite noch Gelegenheit zu ergänzendem Vortrag nach Akteneinsichtnahme. Unter dem 30. Oktober 2003 teilte dieser mit, dass weiterer Vortrag nicht beabsichtigt sei. Am 19. November 2003 ging der von der damaligen Beklagten übersandte Reha-Entlassungsbericht vom 04. Juli 2003 beim SG ein. Anschließend bat das Gericht die Beklagte mit Schreiben vom 20. November 2003 um Übersendung der berufskundlichen Unterlagen zu den im Widerspruchsbescheid in Bezug genommenen Verweisungstätigkeiten.
Parallel zum Klageverfahren leitete die Beklagte ein Verfahren zur Gewährung von Leistungen zur Teilhabe ein, weswegen eine Stellungnahme zu den Verweisungstätigkeiten im Ausgangsverfahren zunächst von Beklagtenseite nicht erfolgte. Unter dem 16. August 2004 übersandte die Beklagte schließlich ihren Bescheid vom 28. Juli 2004 über die Bewilligung von Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (LTA) dem Grunde nach und regte ein Abwarten neuer ärztlicher Untersuchungen vom 23. bzw. 30. August 2004 an. Deren Ergebnisse übersandte der Kläger unter dem 01. September 2004 und 10. September 2004, woraufhin die Beklagte mit Schreiben vom 13. Oktober 2004 erklärte, dass nunmehr ihre ärztliche Abteilung der Auffassung sei, dass LTA derzeit nicht sinnvoll oder erfolgversprechend seien. Mit Schriftsatz vom 12. November 2004 teilte der Kläger mit, er sei am 19. Oktober 2004 am linken Schultergelenk operiert worden.
Mit Beweisanordnung vom 09. Februar 2005 veranlasste das Gericht ein orthopädisches Gutachten, welches dem Gericht am 11. August 2005 vorlag. Auf Aufforderung des Gerichts vom 31. August 2005 nahmen die Beteiligten unter dem 13. September 2005 bzw. 28. September 2005 (Kläger) und 21. September 2005 (Beklagte) Stellung zu dem Gutachten. Der Kläger begehrte die...