Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliches Verfahren: Einlegung der Berufung. Bindung des Berufungsgerichts an die Zulassung der Berufung durch das erstinstanzliche Gericht. Wirksamkeit der Rücknahme einer Berufung bei fehlender eigenhändigen Unterschrift. Zulässigkeit des Widerrufs einer Berufungsrücknahme bei Rücknahme nach fehlerhaftem richterlichen Hinweis. Anforderungen an die Zurückweisung einer Berufung wegen fehlender Konkretisierung des Klagebegehrens. Treu und Glauben. Heilung eines Zustellungsmangels. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand

 

Orientierungssatz

1. Ein Berufungsgericht ist im sozialgerichtlichen Verfahren an die durch das Gericht erster Instanz erfolgte Berufungszulassung auch dann gebunden, wenn ein Zulassungsgrund nicht gegeben ist (hier: Nichterreichen des Berufungsstreitwerts). Dies gilt auch dann, wenn die Zulassung nicht im Urteilstenor, sondern in den Urteilsgründen erfolgt.

2. Für die wirksame Rücknahme einer Berufung ist nicht die eigenhändige Unterschrift des Prozessbevollmächtigten auf der Rücknahmeerklärung erforderlich. Vielmehr genügt auch ein Faksimile der Unterschrift.

3. Erfolgte die Rücknahme einer Berufung nach einem fehlerhaften gerichtlichen Hinweis zur Unzulässigkeit der Berufung, so kann die Rücknahmeerklärung ausnahmsweise unter Anwendung des Grundsatzes von Treu und Glauben nachträglich widerrufen werden. Ein Widerruf kommt dabei auch dann in Betracht, wenn die Prozesserklärung von einem Rechtsanwalt abgegeben wurde, da auch er sich auf einen richterlichen Hinweis verlassen darf.

4. Zur Konkretisierung eines Klagebegehrens als Zulässigkeitsvoraussetzung einer Klage auf Gewährung höherer Leistungen zur Grundsicherung für Arbeitsuchende genügt es nicht, nur den angegriffenen Bescheid zu bezeichnen. Vielmehr muss sich aus dem Klageantrag und dem weiteren Vorbringen entnehmen lassen, welche konkrete Leistung mit der Klage durchgesetzt werden soll. Andernfalls ist die Klage nach Ankündigung und Aufforderung zur Konkretisierung bereits als unzulässig zu verwerfen.

 

Normenkette

SGG § 92 Abs. 1 S. 1, Abs. 2, §§ 67, 63 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 2, § 144 Abs. 3, § 156 Abs. 3 S. 1; ZPO § 174 Abs. 2, § 189

 

Tenor

Es wird festgestellt, dass das Berufungsverfahren L 29 AS 2515/13 durch die Berufungsrücknahme vom 10. Februar 2014 nicht beendet ist.

Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Cottbus vom 3. Juli 2013 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Wirksamkeit einer am 10. Februar 2014 von dem Prozessbevollmächtigen der Klägerin erklärten Berufungsrücknahme. Die Klägerin begehrt die Fortsetzung des Berufungsverfahrens, in dem sie im Rahmen eines Berufungsverfahrens über einen Überprüfungsantrag weitere Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) begehrt.

Mit Schreiben vom 24. Februar 2011 beantragte der Prozessbevollmächtigte der Klägerin nach § 44 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) die Überprüfung sämtlicher bestandskräftiger Bescheide seit dem 1. Januar 2006. Der Beklagte bestätigte mit Bescheid vom 8. März 2011 auch aufgrund dieses nochmaligen Überprüfungsantrages einen zur Überprüfung gestellten Bewilligungsbescheid vom 20. Juni 2007 (Bewilligungszeitraum 1. August 2007 bis 31. Januar 2008) unter Bezugnahme auf den damaligen Widerspruchsbescheid vom 23. Januar 2008. Gegen diesen Bescheid erhob der Prozessbevollmächtigte der Klägerin Widerspruch, indem er den Bescheid vom 8. März 2011 mit einem Stempel “Widerspruch„ versah und ohne Begründung an den Beklagten zurückschickte. Den Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 9. Juni 2011 zurück.

Hiergegen hat die Klägerin am 21. Juni 2011 Klage bei dem Sozialgericht Cottbus erhoben, ohne einen konkreten Antrag zu stellen oder den Gegenstand der Klage dahingehend zu bezeichnen, in welcher Höhe weitere Leistungen gefordert werden. Er müsse im Rahmen eines Verfahrens nach § 44 SGB X keine Rechtsansichten mitteilen; es gelte auch hier der Amtsermittlungsgrundsatz. Begehrt würden höhere Leistungen für Unterkunft und Heizung.

In der öffentlichen Sitzung des Sozialgerichts Cottbus vom 3. Dezember 2012 hat der Beklagtenvertreter ausweislich des Sitzungsprotokolls seine Bereitschaft erklärt, das Klagebegehren anzuerkennen. Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin wurde aufgefordert, die begehrte Leistung “zahlenmäßig weiter„ auszuführen. Er erklärte hierzu, es sei auch eine Anrechnung von Betriebskosten nicht ordnungsgemäß erfolgt und er sei nicht bereit “hier etwas auszurechnen„.

Das Sozialgericht hat daraufhin die Klägerin unter Fristsetzung bis zum 18. Juni 2013 nach § 92 Abs. 1 S. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) aufgefordert, den Gegenstand der Klage dahingehend zu bezeichnen, in welcher Höhe weitere Leistungen gefordert werden.

Nach fruchtlosem Ablauf dieser Frist und Anhörung der Beteiligten hat das Sozialgericht Cottbus die Klage mit Gerichtsbescheid vom ...

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