Entscheidungsstichwort (Thema)

Betriebsprüfung. Gesamtsozialversicherungsbeitrag -allgemeinverbindlicher Tarifvertrag. Mindestarbeitsbedingungen. Betrug. "Toilettenfrauen"

 

Leitsatz (amtlich)

1. Zur Zuordnung der Mitarbeiter von Kundentoiletten zu den Tarifverträgen des Gebäudereiniger-Handwerks, insbesondere unter dem Aspekt der "Trinkgeldbewachung".

2. Stellt der Pächter einer Kundentoilette im Eingangsbereich einen Teller auf, ohne darauf hinzuweisen, dass das von den Kunden hingegebene Trinkgeld den Mitarbeitern nicht zusätzlich zu dem ihnen arbeitsvertraglich geschuldeten Entgelt zufließt, kann darin ein strafbarer Betrug (§ 263 StGB) liegen.

 

Tenor

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 29. August 2012 wird zurückgewiesen.

Die Klägerin trägt die Kosten des Berufungsverfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen, die diese selbst tragen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über eine Beitragsnachforderung i.H.v. 118.218,87 €, die der beklagte Rentenversicherungsträger für die Jahre 2005 bis 2008 aufgrund eines aus seiner Sicht anzuwendenden allgemeinverbindlichen Tarifvertrages geltend macht.

Die Klägerin ist Inhaberin eines als “Reinigungsservice„ bezeichneten Unternehmens (im Folgenden: Reinigungsservice), bei dem die (ehemaligen) Beigeladenen zu 21) bis 43) - die Beigeladenen zu 25) und 36) sind zwischenzeitlich verstorben - beschäftigt waren. Das Geschäftsmodell des Reinigungsservice besteht darin, vertraglich den Betrieb von Kundentoiletten in Einrichtungen mit hoher Kundenfrequenz, wie in Kaufhäusern, Einkaufszentren oder Flughäfen, zu übernehmen. Hierzu schloss er Pacht- oder Dienstleistungsverträge mit den Betreibern dieser Einrichtungen (im Folgenden: Auftraggeber), in denen er sich verpflichtete, die Toilettenräume hygienisch sauber und in einwandfreiem Zustand zu halten, Verbrauchsgegenstände wie Toiletten- und Handtuchpapier sowie Seife - teilweise auf Kosten der Auftraggeber - bereitzuhalten sowie in größeren Abständen eine Grundreinigung der gesamten Anlagen durchzuführen. Einige dieser Verträge sahen Pachtzahlungen des Reinigungsservice an die Auftraggeber, andere Vergütungen der Auftraggeber an den Reinigungsservice, wieder andere eine Unentgeltlichkeit im Verhältnis zwischen Auftraggeber und Reinigungsservice vor. Allen diesen Verträgen gemein sind Regelungen, wonach von den Nutzern der Toiletten (Kunden) keine Entgelte verlangt werden durften; teilweise war der Reinigungsservice jedoch ausdrücklich berechtigt, Behältnisse für Trinkgelder, gegebenenfalls nebst entsprechenden Hinweisschildern, aufzustellen. Das vom Reinigungsservice zu stellende Personal, darunter die Beigeladenen zu 21) bis 43), wurde ausschließlich aus diesen Trinkgeldeinnahmen bezahlt. Zwischen dem Reinigungsservice und seinen Beschäftigten (darunter zahlreichen Altersrentnerinnen) wurden keine als solche bezeichneten Arbeitsverträge geschlossen. Die Klägerin ließ die Beschäftigten vielmehr einen mit “Aushilfen - Personaldaten„ überschriebenen Vordruck ausfüllen, dem u.a. die wesentlichen Angaben zur Person sowie zu den wesentlichen Arbeitsbedingungen zu entnehmen sind. Die auszuübende Arbeit wird darin mit unterschiedlichen Formulierungen (“Reinigungskraft„, “Beaufsichtigung Kundentoiletten u. Verwaltung d. Trinkgelder„, “Betreuung Toiletten/Reinigung„, “Reinigung Toiletten„, “Betreuung von Kundentoiletten„, “Servicekraft - WC Bereich„, “Trinkgeldaufsicht„, “Reinigung von Kundentoiletten + Trinkgeldaufsicht„) beschrieben. Ferner war eine wöchentliche Arbeitszeit ab 6 und bis 25 Stunden bei einem “Einsatz nach Bedarf„ vorgesehen. Das vereinbarte Arbeitsentgelt bewegte sich zwischen 93 € und 360 € monatlich.

Aufgrund einer in der Zeit vom 24. November 2009 bis 25. Februar 2010 durchgeführten Betriebsprüfung für die Jahre 2005 bis 2008 erhob die Beklagte gegenüber der Klägerin mit Bescheid vom 1. März 2010, bestätigt durch den Widerspruchsbescheid vom 30. Juli 2010, eine Beitragsnachforderung in Höhe von 118.218,87 €. Zur Begründung führte die Beklagte u.a. aus, bei dem Betrieb der Klägerin handele sich um einen Reinigungsbetrieb, der in den betrieblichen Geltungsbereich der allgemeinverbindlichen Tarifverträge für die gewerblich Beschäftigten in der Gebäudereinigung falle. Die - hauptsächlich geringfügig - Beschäftigten erhielten für ihre Arbeitsleistung einen Stundenlohn von 3,60 €. Nach dem allgemeinverbindlichen Lohn-Tarifvertrag für das Gebäudereinigungshandwerk seien für den geprüften Zeitraum jedoch - in Abhängigkeit vom jeweiligen Einsatzort - Mindeststundenlöhne zwischen 6,18 € und 8,15 € zu zahlen. Aufgrund der Nachberechnungen hinsichtlich des Mindestlohns lägen die Entgelte einiger Beschäftigter über den Geringfügigkeitsgrenzen, so dass bei Überschreiten Versicherungspflicht vorliege.

Im Klageverfahren hat die Klägerin behauptet, ihr Unternehmen erbringe Reinigungsarbeiten nur in geringem Umfang. Zum überwiegenden Teil ihrer A...

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