Entscheidungsstichwort (Thema)

Hilfsmittelversorgung. Hörgerät. Schwere Hörminderung. Festbetrag. Nicht ausreichende Versorgung. Wirtschaftlichkeitsprinzip. Erstattungsfähigkeit der Kosten eines selbst beschafften Hörgeräts über den Festbetrag hinaus

 

Orientierungssatz

1. Der Kostenerstattungsanspruch nach § 13 Abs. 3 Satz 1 Fall 2 SGB 5 wird bei einem selbst beschafften Hörgerät nicht dadurch ausgeschlossen, dass die Versicherte dieses Hilfsmittel probeweise überlassen bekommen hat, wenn sie die Kaufentscheidung erst nach der Leistungsablehnung durch die Krankenkasse getroffen hat.

2. Der Anspruch auf ein Hörgerät nach § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB 5 ist nicht auf ein Standardgerät beschränkt, das mit den von den Verbänden der Ersatzkassen für Hörhilfen genannten Festbeträgen beschafft werden könnte, jedoch nicht geeignet ist, die Hörbehinderung unter Berücksichtigung des aktuellen Standes des medizinischen und technischen Fortschritts vollständig auszugleichen. Bei Hörhilfen ist vielmehr ein fortschrittliches, technisch weiterentwickeltes Hörgerät erforderlich, wenn es die bestmögliche Angleichung an das Hörvermögen Gesunder erlaubt und im allgemeinen Alltagsleben einen erheblichen Gebrauchsvorteil gegenüber anderen Hörgeräten bietet (Anschluss an BSG, Urteil vom 17.12.2009, B 3 KR 20/08 R).

3. Das Wirtschaftlichkeitsgebot des § 12 Abs. 1 SGB 5 gilt aber auch bei der Versorgung mit Hörgeräten. Eine Leistungsbegrenzung besteht für Hörgeräte, die lediglich ästhetische Vorteile bringen oder deren Vorteile ausschließlich in bestimmten Lebensbereichen zum Tragen kommen. Eine Grenze der Leistungspflicht kann auch berührt sein, wenn einer nur geringfügigen Verbesserung des Gebrauchsnutzens ein als unverhältnismäßig einzuschätzender Mehraufwand gegenübersteht.

4. Die Befugnis der Spitzenverbände der Krankenkassen, zur Begrenzung der Kosten für Hilfsmittel für Gruppen von gleichartigen und gleichwertigen Hilfsmitteln gemäß § 36 SGB 5 Festbeträge festzulegen, berechtigt nicht zu Einschränkungen des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung, sondern nur zu Leistungsbegrenzungen im Hinblick auf die Kostengünstigkeit der Versorgung.

5. Gewährleistet ist die erforderliche Versorgung zum Festbetrag nur, wenn sich ein Betroffener die ihm zustehende Versorgung mit einem Mindestmaß an Wahlmöglichkeit zumutbar beschafften kann.

6. Zur Versorgung von hochgradig schwerhörigen Versicherten war die Festbetragsfestsetzung für Hörgeräte im Jahr 2004 im Land Berlin nicht mehr ausreichend.

 

Tenor

Auf die Berufung der Klägerin werden das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 09. März 2007 und der Bescheid der Beklagten vom 12. Mai 2004 in der Fassung des Bescheides vom 14. September 2004, beide in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. Dezember 2004, aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 3.341,80 Euro zu zahlen.

Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin in beiden Rechtszügen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt von der Beklagten Kostenerstattung für ein selbstbeschafftes Hörgerät i.H.v. 3.341,80 €.

Die Landesverbände der Krankenkassen und die Verbände der Ersatzkassen setzten gemeinsam und einheitlich nach § 36 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch - SGB V - (in der im Jahre 2004 geltenden Fassung - alte Fassung ≪aF≫) Festbeträge für Hörhilfen für die Zeit ab 1. November 2003 u.a. wie folgt fest:

Nr. des Hilfsmittel

verzeichnisses

Bezeichnung

Festbetrag

13.20.03

ein- und mehrkanalige HdO- und IO-Geräte

440,00 €

13.20.09

Ohrpasstücke

 30,00 €

13.99.99.1004

Abschlag für das zweite Hörgerät (13.20.03) bei beidohriger (binauraler) Versorgung

 88,00 €

Die 1968 geborene Klägerin, die bis zum 31. Dezember 2005 Mitglied der Beklagten war und zuletzt im Jahre 1997 mit Hörgeräten versorgt wurde, leidet an einer progredienten mittelgradigen Perzeptionsschwerhörigkeit beidseits (Hörverlust rechts 61 % und links 75 %) unklarer Genese, vermutlich seit Geburt. Die Hördynamik ist beidseits stark eingeschränkt aufgrund eines positiven Recruitments. Nach Durchführung audiometrischer Untersuchungen verordneten der Klägerin die Fachärztinnen für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde Dr. Sch und Dr. G am 21. Januar 2004 unter Verwendung des in der vertragsärztlichen Versorgung vorgesehenen Vordrucks eine Hörhilfe. Die Klägerin testete daraufhin bei der Hörgerätakustikerin K A-B (heute: T) neben den einkanaligen Hörgeräten Swing CIC und Minima 25-2 (welches mit einer Automatic Gain Control - AGC - ≪automatischer Verstärkungsregelung≫ versehen ist) auch die streitgegenständlichen Hörgeräte des Modells Senso Diva CIC (15-kanalig, digitale Signalverarbeitung, alle Parameter digital programmierbar, automatische Lautstärkeregelung, AGC I-Regelsysteme). Wegen der weiteren Einzelheiten des von dieser Hörgeräte-Akustikerin erstellten Anpassberichts vom 16. April 2004 wird auf Blatt 12 der Verwaltungsakte verwiesen.

Am 8. März 2004 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die vollständige Kostenübernahme f...

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