Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren: Voraussetzung der Entscheidung durch Gerichtsbescheid. Zurückverweisung eines Rechtsstreits durch das Berufungsgericht
Orientierungssatz
1. In einem medizinisch geprägten Sozialrechtsstreit (hier: Feststellung des Grades der Behinderung im Schwerbehindertenrecht) kommt der Erlass eines Gerichtsbescheides im Regelfall nicht in Betracht, schon da sich das Gericht zur Ermittlung des Sachverhaltes nicht auf die aktenkundigen ärztlichen Unterlagen der behandelnden Ärzte als Zeugen und die dazu nach Aktenlage ergangenen versorgungsärztlichen Stellungnahmen stützen kann. Etwas anderes gilt regelmäßig auch dann nicht, wenn sich das Gericht aufgrund der bisherigen richterlichen Tätigkeit medizinische Grundkenntnisse erworben hat.
2. Einzelfall zur Zurückverweisung eines Rechtsstreits durch das Berufungsgericht an das erstinstanzliche Gericht bei Aufhebung der Entscheidung wegen eines Verfahrensmangels (hier: Zurückverweisung angeordnet).
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 29. September 2016 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten des Berufungsverfahrens - an das Sozialgericht Berlin zurückverwiesen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten in der Sache über die Höhe des bei der Klägerin festzustellenden Grades der Behinderung (GdB) und die Zuerkennung des Merkzeichens G.
Bei der Klägerin war 1998 ein GdB von 20 festgestellt worden. Ihren Verschlimmerungsantrag vom 7. Januar 2015 lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 23. März 2015 ab. Auf den Widerspruch der Klägerin stellte der Beklagte bei ihr mit Widerspruchsbescheid vom 6. August 2015 einen GdB von 40 fest und lehnte den Widerspruch im Übrigen ab.
Die Klägerin hat mit der bei dem Sozialgericht Berlin erhoben Klage die Feststellung eines GdB von mindestens 50 und der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens G begehrt. Nach Einholung von Befundberichten hat das Sozialgericht die Klage mit Gerichtsbescheid vom 29. September 2016 abgewiesen. Gegen diese Entscheidung hat die Klägerin Berufung eingelegt.
Die Klägerin beantragt ihrem schriftlichen Vorbringen zufolge,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 29. September 2016 aufzuheben und den Rechtsstreit an das Sozialgericht Berlin zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen,
hilfsweise,
den Beklagten unter Änderung des Bescheides vom 23. März 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. August 2015 zu verpflichten, bei ihr mit Wirkung ab 7. Januar 2015 einen GdB von mindestens 50 und das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Erteilung des Merkzeichens G festzustellen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Wegen der weiteren Ausführungen der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen. Ferner wird auf den übrigen Inhalt der Gerichtsakte und des Verwaltungsvorgangs der Beklagten verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Berufung der Klägerin ist im Sinne einer Zurückverweisung begründet.
Die Zurückverweisung beruht auf § 105 Abs. 1 Satz 3 i. V. m. § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG in der seit dem 1. Januar 2012 geltenden Fassung des Art. 8 Nr. 8a des Vierten Gesetzes zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze vom 22. Dezember 2001 (BGBl. I. S. 3057). Danach kann das Landessozialgericht durch Urteil die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache an das Sozialgericht zurückverweisen, wenn das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet (I.) und auf Grund dieses Mangels eine umfangreiche und aufwändige Beweisaufnahme notwendig ist (II.).
I.
Ein Verfahrensmangel im Sinne des § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG ist gegeben, wenn ein Verstoß gegen eine das Gerichtsverfahren regelnde Vorschrift vorliegt. Wesentlich ist dieser Verfahrensmangel, wenn die Entscheidung des Sozialgerichts darauf beruhen kann (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Auflage 2014, Rn. 3a zu § 159 SGG). Die Entscheidung des Sozialgerichts leidet in zweierlei Hinsicht an einem wesentlichen Verfahrensmangel. Zum einen hat das Sozialgericht durch Gerichtsbescheid entschieden, obwohl die dafür gesetzlich vorgesehenen Voraussetzungen nicht erfüllt waren (1.). Zum anderen hat das Sozialgericht den Sachverhalt nicht hinreichend aufgeklärt (2.).
1. Das Sozialgericht hat verfahrensfehlerhaft durch die Kammervorsitzende als Einzelrichterin im Wege des Gerichtsbescheids ohne Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter (§ 12 Abs. 1 Satz 2 SGG) entschieden, obwohl die Voraussetzungen von § 105 Abs. 1 Satz 1 SGG nicht vorgelegen haben. Dadurch hat es der Klägerin entgegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 Grundgesetz ihrem gesetzlichen Richter, nämlich der Kammer in voller Besetzung (§ 12 Abs. 1 Satz 1 SGG in Verbindung mit § 125 SGG), entzogen.
Nach § 105 Abs. 1 Satz 1 SGG ist der Erlass eines Gerichtsbescheides nur dann möglich, wenn die...