Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für Ausländer ohne Aufenthaltsrecht. Unionsbürger. Freizügigkeitsrecht als Arbeitnehmer. Aufgabe der Erwerbstätigkeit wegen Schwangerschaft. Wiederaufnahme innerhalb eines angemessenen Zeitraumes. Anwendung des § 28 Abs 1 S 1 Nr 3 AufenthG 2004 auch auf den ausländischen sorgeberechtigten Elternteil eines minderjährigen Unionsbürgers. Schutz der Familie
Leitsatz (amtlich)
1. Der Erhalt der Arbeitnehmereigenschaft in unmittelbarer Anwendung des Art 45 AEUV kommt nicht in Betracht, wenn eine Frau, die ihre Arbeitstätigkeit im Spätstadium der Schwangerschaft aufgegeben hat, erst rund zweieinhalb Jahre nach der Geburt wieder eine Erwerbstätigkeit aufnimmt (vgl EuGH vom 19.6.2014 - C-507/12 ("Saint Prix") = ZESAR 2015, 30.
2. Auch unter Berücksichtigung des in Art 18 Abs 1 AEUV statuierten Verbots der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit kann § 28 Abs 1 S 1 Nr 3 AufenthG (juris: AufenthG 2004) iVm § 11 Abs 1 S 11 FreizügG/EU (in der bis zum 23.11.2020 geltenden Fassung; jetzt: § 11 Abs 14 S 1 FreizügG/EU; juris: FreizügG/EU 2004) dem sorgeberechtigten Elternteil eines - wegen der Begleitung des anderen Elternteils nach § 2 Abs 2 Nr 6 FreizügG/EU iVm § 3 Abs 1 FreizügG/EU seinerseits freizügigkeitsberechtigten - minderjährigen Unionsbürgers kein Aufenthaltsrecht vermitteln. Vielmehr findet § 28 Abs 1 S 1 Nr 3 AufenthG - gemäß seinem Wortlaut - nur auf den Elternteil eines (minderjährigen) Deutschen Anwendung.
3. Die Schutzwirkungen, die aufgrund von Art 6 Abs 1 und Abs 2 GG von der familiären Bindung einer Ausländerin zu ihrem Kind und ihrem Lebensgefährten ausgehen, sind zwar bei der Auslegung der Normen des AufenthG zu berücksichtigen, erlauben es dem Senat aber nicht, sich über einzelne Tatbestandsmerkmale dieser Vorschriften hinwegzusetzen.
Tenor
Auf die Berufung des Beklagten wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 16. März 2017 aufgehoben. Die gegen den Beklagten gerichtete Klage wird abgewiesen.
Der Beigeladene wird dem Grunde nach verurteilt, der Klägerin Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII für die Zeit vom 2. März 2016 bis zum 31. August 2016 zu gewähren.
Der Beigeladene hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits in beiden Rechtszügen zu erstatten. Im Übrigen haben die Beteiligten einander keine Kosten zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Im Streit stehen existenzsichernde Leistungen für die Zeit vom 2. März bis 31. August 2016.
Die 1992 geborene Klägerin ist bulgarische Staatsangehörige. Sie hält sich seit dem 2. Januar 2013 in der Bundesrepublik Deutschland auf.
Vom 25. August 2014 bis zum 24. August 2015 war die Klägerin als Reinigungskraft bei der K GmbH angestellt, wobei sie dieser Tätigkeit tatsächlich jedenfalls ab dem 26. April 2015 wegen eines Beschäftigungsverbots bei Schwangerschaft nicht mehr nachging.
Am xx.xx.2015 kam die Tochter der Klägerin, M H, zur Welt. Vater des Kindes ist der 1991 geborene Lebensgefährte der Klägerin, Herr M H. Die Tochter und der Lebensgefährte sind ebenfalls Bulgaren. Der Lebensgefährte hält sich seit Oktober 2012 dauerhaft in der Bundesrepublik auf; zuvor hatte er bereits 2009 und 2010 für rund sechs bzw. rund neun Monate in Deutschland gelebt und war anschließend jeweils wieder nach Bulgarien zurückgekehrt.
Im streitbefangenen Zeitraum lebte die Klägerin zusammen mit ihrem Lebensgefährten und ihrer Tochter in einer Mietwohnung unter der im Rubrum genannten Anschrift. Die Miete belief sich auf monatlich 585,- Euro. Die Klägerin erhielt Elterngeld in Höhe von monatlich 150,- Euro (Hälfte des Mindestbetrags von 300,- Euro wegen Inanspruchnahme der Verlängerungsoption). Außerdem wurde Kindergeld in Höhe von monatlich 190,- Euro an sie gezahlt.
Der Lebensgefährte der Klägerin war ab dem 2. März 2016 (und durchgängig über August 2016 hinaus) als Reinigungskraft beschäftigt. Er erzielte aus dieser Erwerbstätigkeit Einkünfte, die sich im streitgegenständlichen Zeitraum auf zwischen 422,80 Euro und 576,93 Euro netto pro Monat beliefen und jeweils im Folgemonat ausgezahlt wurden.
Mit Bescheid vom 16. März 2016 bewilligte der Beklagte dem Lebensgefährten sowie der gemeinsamen Tochter für die Zeit vom 2. März bis 31. August 2016 (vorläufig) Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II). Zugleich lehnte er es ab, der Klägerin solche Leistungen zu gewähren mit der Begründung, dass sich ihr Aufenthaltsrecht allein aus dem Zwecke der Arbeitsuche ergebe.
Am 17. Mai 2016 beantragte die Klägerin unter Hinweis auf § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) die Überprüfung des Bescheids vom 16. März 2016. Zugleich stellte sie einen erneuten Leistungsantrag.
Der Beklagte lehnte, jeweils mit Bescheid vom 7. Juni 2016, beide Anträge ab. Die gegen diese beiden Bescheide eingelegten Widersprüche der Klägerin wies er mit einem Widerspruchsbescheid vom 5. Juli 2016 zurück. Er begründete seine...