Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Nutzenbewertung von Arzneimitteln mit neuen Wirkstoffen. Durchführung einer obligatorischen Nutzenbewertung, wenn ein neu zugelassenes Arzneimittel auf einer neuen Wirkung eines bekannten Wirkstoffes beruht
Leitsatz (amtlich)
Eine obligatorische Nutzenbewertung nach § 35a Abs 1 SGB V ist durchzuführen, wenn ein neu zugelassenes Arzneimittel auf einer neuen Wirkung eines bekannten Wirkstoffes beruht.
Nachgehend
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des gesamten Verfahrens.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist der Beschluss des Beklagten vom 27. November 2015 „über eine Änderung der Arzneimittel-Richtlinie (AM-RL) durch Ergänzung der Anlage XII - Beschlüsse über die Nutzenbewertung von Arzneimitteln mit neuen Wirkstoffen nach § 35a SGB V Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (§ 35a SGB V) -“ um den Wirkstoff Ivermectin.
Dieser Wirkstoff ist in der WHO-Liste der unentbehrlichen Medikamente enthalten als antiparasitäres Arzneimittel mit einem breiten Wirkungsspektrum, u.a. seit 1987 zur Bekämpfung der Onchozerkose (Flussblindheit), und seit 2011 der lymphatischen Filariose (Elephantiasis) (vgl. https://list.essentialmeds.org/medicines/58). Der Medizinnobelpreis 2015 ist unter anderem für die Entdeckung bzw. Entwicklung des Wirkstoffes vergeben worden. Ivermectin wird bei Menschen und Tieren seit Jahrzehnten erfolgreich zur Behandlung von Parasiten wie Darmwürmern und Krätzmilben verwendet. In jüngerer Zeit ist er als vermeintlich wirksames Mittel gegen COVID 19 allgemein bekannt geworden.
In einem Mitgliedsstaat der Europäischen Union, in Frankreich, wurde erstmals 1999 ein Arzneimittel mit Ivermectin unter dem Namen Stromectol® zur Behandlung der Anguillulosis (Infektion durch den Spulwurm), der lymphatischen Filariose und der Krätze als Humanarzneimittel zugelassen, seit 2003 auch in den Niederlanden. Dieses Arzneimittel ist in der Vergangenheit im Wege des Einzelimports nach Deutschland eingeführt worden. In Deutschland war Ivermectin nur als Tierarzneimittel zur Behandlung gegen gastrointestinale Nematoden und Dassellarven bei Pferden zugelassen. Seit Mai 2016 ist in Deutschland das Arzneimittel Scabioral® zur Behandlung von Anguillulosis, der durch Würmer verursachten lymphatischen Filariose und der Krätze zugelassen. Auf die Fachinformation wird ergänzend verwiesen.
Die Klägerin ist die deutsche Tochtergesellschaft eines weltweit tätigen pharmazeutischen Unternehmens und vertreibt seit dem Juni 2015 das verschreibungspflichtige Fertigarzneimittel Soolantra® Creme mit ebenfalls diesem Wirkstoff. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) hat es am 29. April 2015 im Rahmen eines dezentralen Zulassungsverfahrens als Humanarzneimittel zur topischen Behandlung von entzündlichen Läsionen der (papulopustulösen) Rosazea zugelassen. Auf die Fachinformationen wird ergänzend verwiesen. Die Klägerin besaß und besitzt für dieses Arzneimittel in Deutschland Unterlagenschutz.
Am 27. November 2015 ergänzte der beklagte Gemeinsame Bundesausschuss (GBA) die Anlage XII der Arzneimittelrichtlinie (AM-RL) - "Beschlüsse über die Nutzenbewertung von Arzneimitteln mit neuen Wirkstoffen nach § 35a SGB V" - um den als "neu" anzusehenden Wirkstoff Ivermectin; ein Zusatznutzen gegenüber der zweckmäßigen Vergleichstherapie gelte nach dessen Abs. 1 Satz 5 als nicht belegt (Beschluss vom 27. November 2015, BAnz AT 22.12.2015 B2, zuletzt i.d.F. vom 21.1.2016, BAnz AT 19.04.2016 B3). Zum Ablauf des Verfahrens wird auf die "Tragende Gründe" zu diesem Beschluss (S. 6) verwiesen.
Die Klägerin hat am 17. Dezember 2015 beim hiesigen Gericht einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung eingereicht mit dem Ziel, bis zur Vorlage einer Entscheidung in einem Hauptsacheverfahren vorläufig festzustellen, dass der Beschluss vom 27. November 2015 unwirksam sei. Mit Beschluss vom 23. Dezember 2015 hat der Senat den Erlass einer Zwischenverfügung abgelehnt (Az. L 1 KR 550/15 KL ER). Nachfolgend haben die Beteiligten das Eilverfahren für erledigt erklärt.
Am 10. Mai 2016 schlossen die Klägerin und der Spitzenverband Bund der Krankenkassen (GKV-SpV) eine Vereinbarung nach § 130b Abs. 1 SGB V über den Erstattungsbetrag für das Fertigarzneimittel Soolantra® mit Wirkung ab 1. Juni 2016. In der Vorbemerkung zu der Vereinbarung heißt es u.a., dass die Frage, ob es sich dabei um ein Arzneimittel mit einem neuen Wirkstoff handelt, von den Parteien unterschiedlich beurteilt wird, und dass die Parteien die Vereinbarung "ungeachtet dessen" treffen.
Bereits zuvor hat die Klägerin am 22. Dezember 2015 die hier streitgegenständliche Feststellungsklage erhoben.
Der Senat hat die hiesige Hauptsachenklage zunächst mit Urteil vom 19. Oktober 2018 (Az. L 1 KR 558/15 KL) als unzulässig abgewiesen, weil sie nach § 35a Abs. 8 S. 1 SGB V ausgeschlossen sei. Auf die Revision der Klägerin hat das Bundessozialgericht (BSG)...