Entscheidungsstichwort (Thema)
Arbeitslosengeld. rückwirkende Aufhebung der Bewilligung mit Erstattungsforderung nach angezeigter Arbeitsaufnahme. keine vorläufige Zahlungseinstellung. keine Anwendung des § 103 SGB 10. keine rückwirkende Erhöhung des aufstockenden Arbeitslosengeld II. Forderungserlass wegen unbilliger Härte
Leitsatz (amtlich)
1. Zeigt ein Empfänger von Arbeitslosengeld und aufstockendem Arbeitslosengeld II die Aufnahme einer mehr als 15 Stunden wöchentlich umfassenden Beschäftigung der Bundesagentur für Arbeit an und zahlt diese gleichwohl Arbeitslosengeld weiter, steht einer späteren Aufhebung und Erstattung von Arbeitslosengeld für die Zeit ab Beschäftigungsaufnahme nicht entgegen, dass dem Leistungsempfänger rückwirkend für die Zeit ab Beschäftigungsaufnahme kein höheres Arbeitslosengeld II zusteht. Dies gilt auch dann, wenn die Bundesagentur für Arbeit die Weiterzahlung von Arbeitslosengeld für die Zeit ab Beschäftigungsaufnahme bei pflichtgemäßem Verhalten hätte verhindern können.
2. In einem solchen Fall wird die Bundesagentur für Arbeit die Erstattungsforderung zur Vermeidung unbilliger Härten regelmäßig zu erlassen haben.
Normenkette
SGB III a.F. § 117 Abs. 1, § 118 Abs. 1-2, § 119 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3; SGB III § 138 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3, § 330 Abs. 3 S. 1, § 331 Abs. 1 S. 1; SGB II § 11; SGB IV § 76 Abs. 2 S. 1 Nr. 3; SGB X § 48 Abs. 1 S. 1, § 50 Abs. 1, §§ 102, 103 Abs. 1, § 104 Abs. 1 S. 2, § 105
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt (Oder) vom 20. Mai 2015 aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind für das gesamte Verfahren nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Aufhebung und Erstattung von Arbeitslosengeld für die Zeit vom 3. bis 30. Juni 2011.
Die 1959 geborene Klägerin stand im Laufe ihres Erwerbslebens wiederholt bei der Beklagten im Leistungsbezug. U.a. im Zusammenhang mit ihren Anträgen auf Arbeitslosengeld/-hilfe vom 25. Oktober 2001, 15. April 2002, 2. Dezember 2003, Februar/März 2004, Mai/Juni 2004 und 6. Januar 2011 erklärte sie, das Merkblatt 1 für Arbeitslose erhalten und von seinem Inhalt Kenntnis genommen zu haben. Für die Zeit ab dem 11. Januar 2011 bewilligte die Beklagte ihr Arbeitslosengeld für 180 Kalendertage mit einem täglichen Leistungssatz von 19,24 € (Bescheid vom 4. Februar 2011). Das Arbeitslosengeld der Klägerin wies die Beklagte für Mai 2011 am 25. Mai 2011 und für Juni 2011 am 24. Juni 2011 an.
Der Beigeladene bewilligte der Klägerin Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für die Zeit vom 1. März bis 30. Juni 2011 i.H.v. monatlich 158,30 € (Bescheid vom 2. März 2011) bzw. 163,30 € (Bescheid vom 26. März 2011) und berücksichtigte hierbei als Einkommen der Klägerin Arbeitslosengeld i.H.v. 577,20 € monatlich, bereinigt um einen Betrag von 30 €.
Am 3. Juni 2011 teilte die Klägerin der Beklagten anlässlich einer persönlichen Vorsprache mit, dass sie an diesem Tage eine Beschäftigung im Umfang von 20 Wochenstunden bei einem monatlichen Arbeitsentgelt von 400 € aufnehme. Daraufhin hob die Beklagte mit Bescheid vom 27. Juni 2011 die Bewilligung von Arbeitslosengeld ab dem 3. Juni 2011 auf („Grund: Aufnahme einer Beschäftigung“). Mit weiterem Bescheid vom 1. Juli 2011 hob die Beklagte die Bewilligung von Arbeitslosengeld für die Zeit vom 3. bis 30. Juni 2011 auf, weil die Klägerin nicht mehr arbeitslos sei, und forderte die Erstattung von 538,72 €. Den hiergegen gerichteten Widerspruch wies sie unter Berufung auf § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 und 4 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) in Verbindung mit (i.V.m.) § 330 Abs. 3 S. 1 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) mit Widerspruchsbescheid vom 29. Juli 2011 zurück.
Nach Beiladung des für die Klägerin zuständigen Jobcenters (Beschluss vom 16. Dezember 2014) hat das Sozialgericht mit Urteil vom 20. Mai 2015 die Bescheide der Beklagten vom 27. Juni und 1. Juli 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom „29. Juni 2011“ (gemeint offensichtlich: 29. Juli 2011) aufgehoben und die Berufung zugelassen. Zur Begründung hat das Sozialgericht ausgeführt: Die Voraussetzungen für die Rücknahme des Bescheids der Beklagten vom 4. Februar 2011 lägen zwar dem Grunde nach vor. Dennoch sei die Beklagte nach Überzeugung der Kammer nicht berechtigt gewesen, nachträglich die Leistungsbewilligung aufzuheben. Vielmehr sei ein Erstattungsanspruch der Beklagten gegenüber dem Beigeladenen gemäß § 103 Abs. 1 SGB X entstanden. Der Anspruch der Klägerin auf Arbeitslosengeld sei nachträglich entfallen. Diese Leistung entspreche auch den Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Der Beigeladene habe in Höhe des Erstattungsbetrages auch noch nicht selbst an die Klägerin geleistet, sondern rechtmäßig das der Klägerin zugeflossene Arbeitslosengeld in voller Höhe als Einkommen berücksichtigt. Eine Rücknahme der bewilligten SGB II-Leistungen sei daher ...