Entscheidungsstichwort (Thema)

Gesetzliche Unfallversicherung. Wegeunfall. 16 jähriger Gymnasialschüler. sachlicher Zusammenhang. Unterbrechung des versicherten Schulwegs. Handlungstendenz. vernunftwidriges Verhalten. eigenverantwortliches Handeln. kein gruppendynamischer Prozess. Öffnen der Bahntür während der Fahrt. Besteigen der Lok

 

Orientierungssatz

Öffnet ein fast 16 jähriger Gymnasialschüler auf dem Heimweg von der Schule mit der Bahn die verschlossene Durchgangstür eines Wagens mit einem Vierkantschlüssel und steigt er - als Mutprobe - auf die Lokomotive und erleidet er dabei einen Stromschlag, steht er mangels Vorliegens des sachlichen Zusammenhangs nicht mehr gem § 8 Abs 2 Nr 1 SGB 7 unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung.

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 30.03.2023; Aktenzeichen B 2 U 3/21 R)

 

Tenor

Das Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 18. November 2016 wird aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Feststellung, dass der Unfall, den der Kläger am 21. Januar 2015 erlitten hat, ein versicherter Unfall im Sinne des § 8 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VII) war.

Der 1999 geborene Kläger war zum Unfallzeitpunkt 15 Jahre und 11 Monate alt und Schüler der 10. Klasse des Freien Gymnasiums R „Schule R“ (Unfallanzeige der Schule vom 22. Januar 2015). Am 21. Januar 2015, einem Mittwoch, wurden die Schüler wie üblich nach dem Ende des Unterrichts gegen 14.30 Uhr mit dem Schulbus zum Bahnhof gefahren, da viele Schüler der Schule mit der Bahn anreisen. Der Kläger wollte den ersten Zug - einen Regionalexpress (RE) - nach Hause in das ca. 4 km entfernte B um 14.53 Uhr nehmen. Gemeinsam mit seinen Schulkameraden bestieg der Kläger den RE 18352 Richtung B. Kurz nach der Ausfahrt des Zuges aus dem Bahnhof öffnete er die verschlossene Durchgangstür des letzten Wagens mit einem Vierkant und stieg auf die dahinter liegende, den Zug schiebende Lok. Auf dem Dach der Lok wurde er von einem Stromschlag aus der Starkstrom führenden Oberleitung (Lichtbogen, 15.000 Volt) erfasst und stürzte - brennend - von der Lok, fiel auf die Verbindungspuffer und konnte sich selbst in den Wagen retten (Bericht der Bundespolizeidirektion B vom 18. Februar 2015). Der Lokführer hielt den Zug mittels Schnellbremsung an, da bei ihm der Hauptschalter und kurz darauf die Fahrgastnotbremse ausgelöst worden waren.

Im Rahmen des sodann eingeleiteten Rettungseinsatzes wurde der Kläger mit einem Rettungshubschrauber in das Unfallkrankenhaus B (UKB) gebracht und dort stationär aufgenommen. Die behandelnden Ärzte diagnostizierten ein Polytrauma und schwere, IIa-III°ige Verbrennungen von ca. 35 % der Körperoberfläche nach Stromdurchfluss im Bereich des rechten Armes, des Rumpfes, des gesamten Rückens und des Gesäßes (Durchgangsarztbericht Prof. Dr. E, UKB, vom 26. Januar 2015). Die Kosten der notwendigen umfangreichen Behandlung des Klägers in Form multipler Operationen (Abtragen der geschädigten Haut, Kunsthautersatz etc., Hilfsmittel, stationäre Rehabilitation) übernahm zunächst die Beklagte (vgl. an die AOK Nordost gerichtetes Erstattungsbegehren vom 04. September 2015 i.H.v. 307.762,04 €). Am 02. April 2015 wurde der Kläger aus der stationären Behandlung entlassen (Entlassungsbericht UKB vom 02. April 2015). Vom 29. April bis zum 18. Juni 2015 befand sich der Kläger zur stationären Rehabilitation in der M Klinik Bad K - Neurologische und orthopädisch-traumatologische Fachklinik für Rehabilitation, Reha Zentrum für Brandverletzte (Entlassungsbericht vom 30. Juni 2015).

Im Rahmen der Prüfung ihrer Leistungspflicht zog die Beklagte im Mai 2015 die Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft P zum Az. Js im Verfahren gegen den Kläger wegen versuchten gefährlichen Eingriffs in den Bahn-, Schiffs- und Luftverkehr bei. Das Ermittlungsverfahren wurde im April 2015 eingestellt. Bestandteil der Ermittlungsakte sind u. a. die in Auszügen wiedergegebenen folgenden Vernehmungsprotokolle der Bundespolizeidirektion B:

Der Zeuge SO (geboren 1999) erklärte in der bundespolizeilichen Zeugenvernehmung am 23. Januar 2015 u. a.: „O und ich besuchen gemeinsam die Schule in R. Wir gehen beide in die Klasse 10. Weiterhin sind wir auch so befreundet und Unternehmen auch öfter etwas zusammen. …Wir sind auf dem Bahnhof R in den vorletzten Wagen des Zuges eingestiegen. Dann ist ungefähr eine kurze Zeitspanne vergangen bis der O meinte „Lass uns mal nach hinten gehen.“ Wo wir dann den letzten Waggon erreicht hatten, wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht, was er vorhatte. Auf jeden Fall hatte ich mich dann auf eine Längsbank in Fahrtrichtung links gesetzt. Der O hatte sich dann an der Mitteltür zur Lok zu schaffen gemacht. Er öffnete diese mit einem Vierkant. Wo er dann verblieben ist habe ich dann nicht gesehen. Ich hörte dann einen lauten Knall und sah dann Regenbogenfarben in Höhe der Lok. Der O saß in der Mitte auf dem Dach des Führerstandes ich sah seine Beine vor...

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