Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Statthaftigkeit der Feststellungsklage. Klage eines Leistungsträgers auf Feststellung der Zuständigkeit eines anderen Leistungsträgers. Subsidiarität. Geltendmachung eines Erstattungsanspruchs gegen den zuständigen bzw vorrangig verpflichteten Leistungsträger. örtliche Zuständigkeit. Eingliederungshilfe nach dem SGB 12 bzw dem SGB 9 2018. Leistungen zur Betreuung in einer Pflegefamilie. ambulant betreutes Wohnen
Leitsatz (amtlich)
1. Die Klage eines Leistungsträgers auf Feststellung der Zuständigkeit eines anderen ist infolge Subsidiarität unzulässig.
2. Die örtliche Zuständigkeit des Trägers der Sozialhilfe bzw der Eingliederungshilfe bestimmt sich jedenfalls bei erwachsenen hilfebedürftigen Personen, die bereits am 31.12.2019 Eingliederungshilfe in Form der Familienpflege (= in und durch eine "Pflegefamilie") erhalten hatten, nach ihrem tatsächlichem Aufenthalt. Diese Hilfeform stellt keine ambulant betreute Wohnmöglichkeit dar.
Normenkette
SGB IX a.F. § 14 Abs. 1 Sätze 1-4, Abs. 2 Sätze 1, 4, Abs. 3, 4 S. 1, §§ 39, 41, 42 Abs. 2 Nr. 2, § 53 Abs. 1, § 54 Abs. 1, § 55 Abs. 1, 2 Nr. 6, § 136; SGB IX § 2 Abs. 1, §§ 5, 94 Abs. 1, § 98 Abs. 1 Sätze 1-5, §§ 99, 102 Abs. 1 Nr. 4, § 113 Abs. 1-2; SGB XII § 54 Abs. 1 S. 1 Fassung: 2013-08-09, § 98 Abs. 1 S. 1, Abs. 2, 5 S. 1, § 107; BSHG § 40 Abs. 1 Nr. 8, § 104; EinglHV § 19; SGB VIII § 7 Abs. 1 Nrn. 1-2; SGB IV § 1 Abs. 1 S. 1; SGB X §§ 53, 55, 102 Abs. 1, § 103 Abs. 3, § 104 Abs. 1, 3; SGB I § 43 Abs. 1; Verfassung von Berlin Art. 1 Abs. 1 S. 1; BTHG Art. 20 Abs. 2 Nr. 1; SGG § 51 Abs. 1 Nr. 6a, § 54 Abs. 5, § 55 Abs. 1 Nrn. 1-2, § 75 Abs. 2, § 99 Abs. 3 Nr. 2, §§ 130, 197a Abs. 1; VwGO § 154 Abs. 1, § 155 Abs. 1, § 161 Abs. 1
Nachgehend
Tenor
Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 8. September 2016 insoweit aufgehoben, als darin festgestellt worden ist, dass der Beklagte die Leistungen der Eingliederungshilfe und der Hilfe zur Pflege künftig in eigener Zuständigkeit zu leisten hat. Insoweit wird die Klage abgewiesen.
Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
Der Beklagte trägt auch die Kosten des Berufungsverfahrens.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist, ob der Kläger die Erstattung von Aufwendungen, die ihm durch die Gewährung von Leistungen der Eingliederungshilfe nach dem Sechsten Kapitel des Sozialgesetzbuchs Zwölftes Buch (SGB XII) in der bis zum 31. Dezember 2019 geltenden Fassung bzw. des Teils 2 des Sozialgesetzbuchs Neuntes Buch (SGB IX) in der ab 1. Januar 2020 geltenden Fassung sowie von Hilfen zur Pflege nach dem Siebten Kapitel des SGB XII an den leistungsberechtigten W (im Folgenden: Leistungsberechtigter) entstanden sind, und eine Feststellung zur Leistungszuständigkeit des Beklagten beanspruchen kann.
Bei dem am 5. Juni 1992 im Zuständigkeitsbereich des Klägers geborenen und bis Anfang 1993 dort bei seiner leiblichen Mutter wohnenden bzw. „Bereitschaftspflegefamilien“ zugewiesenen Leistungsberechtigten besteht von Geburt an eine dauernde geistige Behinderung in Gestalt einer schwergradigen Intelligenzminderung, eines Down-Syndroms und einer Hypothyreose. Seit Februar 1993 sind bei ihm nach dem Recht der Teilhabe ein Grad der Behinderung von 100 und die Voraussetzungen für die Merkzeichen B, G und H festgestellt.
Seit Januar 1993 lebt der Leistungsberechtigte in einer Pflegefamilie im Kreisgebiet des Beklagten, der durch sein Jugendamt bis zum Eintritt der Volljährigkeit Hilfen zur Erziehung in Vollzeitpflege gewährte. Die Pflegemutter ist seit 1994 Betreuerin des Leistungsberechtigten in sämtlichen Angelegenheiten. Seit 1994 trägt der Leistungsberechtigte den Familiennamen der Pflegefamilie.
Am 29. März 2010 beantragte der Leistungsberechtigte beim Beklagten, ihm - der Sache nach für die Zeit ab Volljährigkeit - für die weitere Betreuung in der Pflegefamilie Hilfen nach den Bestimmungen der Sozialhilfe zu gewähren.
Der Beklagte leitete den Antrag mit einem am 9. April 2010 dort eingegangenen Anschreiben an den Kläger weiter. Er bezog sich auf § 14 Abs. 1 SGB IX und machte geltend, dass der Kläger nach § 98 Abs. 5 i.V. mit § 107 SGB XII örtlich zuständig sei. Vor Eintritt in die Familienpflege habe der Leistungsberechtigte seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Zuständigkeitsbereich des Klägers gehabt.
Der Kläger sandte den Antrag mit Anschreiben vom 14. April 2010 an den Beklagten zurück und vertrat die Auffassung, dass § 14 Abs. 1 SGB IX auf die örtliche Zuständigkeit nicht anwendbar sei. Die örtliche Zuständigkeit des Beklagten sei ab Eintritt der Volljährigkeit des Leistungsberechtigten begründet, weil ab dann der tatsächliche Wohnort maßgeblich sei.
Der Beklagte entgegnete mit Schreiben vom 23. April 2010, dass er die Auffassung des Klägers zum Anwendungsbereich des § 14 Abs. 1 SGB IX nicht teile und der Leistungsberechtigte erst am 5. Juni 2010 volljährig werde. Der Kläger sei aufgefor...