Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialrechtliches Verwaltungsverfahren. Erstattung von Vorverfahrenskosten. Freistellungsanspruch. Unwirksamkeit der Aufrechnung mit Forderungsansprüchen des Grundsicherungsträgers. fehlende Gleichartigkeit der Ansprüche. Kostenanerkenntnis. Zurückbehaltungsrecht
Leitsatz (amtlich)
1. Bei dem Kostenerstattungsanspruch aus § 63 SGB X handelt es sich um einen Freistellungsanspruch, nicht um einen Zahlungsanspruch.
2. Ein Jobcenter kann gegen einen Kostenerstattungsanspruch des Leistungsempfängers aus § 63 SGB X nicht mit eigenen Forderungen gegen den Leistungsempfänger aus Erstattungsbescheiden aufrechnen, da es sich nicht um gleichartige Forderungen handelt.
3. Gegen die Übernahme der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, nach der Freistellungsansprüche gegen Zahlungsansprüche nicht aufgerechnet werden können, in das Sozialrecht, bestehen keine Bedenken.
Normenkette
SGB X § 63; BGB §§ 387, 389, 670, 675, 242, 273; RVG § 10 Abs. 1 S. 1; SGG § 54 Abs. 4
Tenor
Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 16. Juni 2016 wird zurückgewiesen.
Der Beklagte hat dem Kläger auch die Kosten des Berufungsverfahrens zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger begehrt von dem Beklagten die Freistellung von den Kosten eines Widerspruchsverfahrens in Höhe von 380,80 Euro. Streitig ist die Frage, ob die Kostenrechnung des Verfahrensbevollmächtigten des Klägers durch Aufrechnung mit Erstattungsforderungen des Beklagten in Höhe von insgesamt 443,79 Euro erloschen ist.
Der Kläger bezieht laufende Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) vom Beklagten.
Mit Bescheid vom 6. August 2015 minderte der Beklagte den Anspruch des Klägers auf Arbeitslosengeld II für die Zeit vom 1. September bis 30. November 2015, da der Kläger einem Beschäftigungsangebot vom 9. Juni 2015 nicht nachgekommen sei. Hiergegen legte sowohl der Kläger selbst (mit Eingang vom 12. August 2015 beim Beklagten) als auch der - mit dem jetzigen Prozessbevollmächtigten personenidentische - Bevollmächtigte des Klägers (mit Eingang vom 2. September 2015 beim Beklagten) Widerspruch ein (Aktenzeichen des Widerspruchsverfahrens: W 96 202-03769/15) ein. Nach Übersendung einer Vollmacht gab der Beklagte dem Widerspruch mit Abhilfebescheid vom 10. September 2015 in vollem Umfang statt, hob den Bescheid vom 6. August 2015 auf und erklärte, auf Antrag die im Widerspruchsverfahren entstandenen Kosten, soweit notwendig und nachgewiesen, zu erstatten.
Mit Kostennote vom 15. September 2015 berechnete der Bevollmächtigte des Klägers seine Kosten für das Widerspruchsverfahren mit 380,80 Euro und verlangte vom Beklagten die Überweisung dieses Betrages.
Nachdem er auf Nachfrage durch den Beklagten mitgeteilt hatte, dass der Kostenerstattungsanspruch des Klägers nicht an ihn abgetreten worden sei, teilte der Beklagte ihm mit Schreiben vom 18. September 2015 mit, dass die geltend gemachten Kosten in voller Höhe anerkannt würden. Den sich zugunsten seines Mandanten ergebenden Kostenerstattungsanspruch habe er mit Erklärung vom 18. September 2015 gegenüber diesem in voller Höhe aufgerechnet, so dass sich ein auszuzahlender Kostenerstattungsanspruch nicht ergebe. Wegen seiner Vergütung möge sich der Bevollmächtigte an seinen Mandanten wenden.
Mit dem an den Kläger selbst gerichteten Schreiben vom selben Tage erklärte der Beklagte, dass die vom Bevollmächtigten geltend gemachten Kosten in Höhe von 380,80 Euro erstattungsfähig seien. Gegen den Kläger bestünden momentan aber noch Forderungen aus den Bescheiden vom 6. Juni 2013 in Höhe von 135,28 Euro, vom 10. Juli 2014 in Höhe von 99,38 Euro und vom 5. Juni 2015 in Höhe von 209,03 Euro, mit denen er gegen den Anspruch auf Kostenerstattung nach § 387 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) aufrechne. Die Forderungen aus den genannten Bescheiden seien bestandskräftig. Damit hätten sich zum Zeitpunkt der Aufrechnung diese Forderungen einredefrei gegenüber gestanden. Die Aufrechnung sei zudem möglich gewesen, da der Kläger hierdurch von einer Verbindlichkeit des Beklagten befreit worden sei, auch wenn er sich dadurch dem Gebührenanspruch seines Bevollmächtigten in gleicher Höhe ausgesetzt gesehen habe. Denn bei den zu erbringenden Leistungen nach dem SGB II handele es sich um steuerfinanzierte Transferleistungen, die er im Interesse der Allgemeinheit gegenüber dem Interesse des Klägers am Ausgleich der Gebührenforderung seines Bevollmächtigten zu berücksichtigen habe. Dies insbesondere auch deshalb, weil keine schutzwürdigen Interessen ersichtlich seien, die gegen eine Aufrechnung sprächen. Ein an den Bevollmächtigten auszuzahlender Betrag habe sich somit nicht ergeben. Die aus den genannten Bescheiden zu erstattenden Leistungen seien entsprechend der Aufrechnung reduziert worden. Eine etwaige erfolgte Aufrechnung aus den laufenden Leistungen sei entsprechend angepasst worden. Durch die vorstehende Aufrechnung sei eine Auszahlung an den Bevollmächtigten nicht er...