Entscheidungsstichwort (Thema)
Krankenversicherung. Arzneimittelversorgung. Cannabis zur inhalativen Anwendung. Fehlen einer begründeten ärztlichen Einschätzung. sozialgerichtliches Verfahren. Amtsermittlungsgrundsatz
Leitsatz (amtlich)
Es ist selbst bei Berücksichtigung des Amtsermittlungsgrundsatzes (§ 103 SGG) nicht Aufgabe des Gerichts, die behandelnden Ärzte/Ärztinnen so lange zu befragen, bis sich in der Zusammenschau eine ausreichend begründete Einschätzung iSd § 31 Abs 6 S 1 Nr 1b SGB V einstellt.
Tenor
Die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 11. Oktober 2019 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Versorgung mit Cannabis.
Der Kläger ist 1966 geboren und bei der Beklagten krankenversichert. Er beantragte bei der Beklagten unter Vorlage eines ärztlichen Attestes des Facharztes für Innere Medizin Dr. G am 24. Mai 2017 die Versorgung mit Cannabis. Der Arzt führte aus, der Kläger leide an einem schweren Fibromyalgiesyndrom mit chronischen Ganzkörperschmerzen und muskulären Verspannungen, Schlafstörungen sowie schweren Depressionen. Er behandele sich selbständig im Rahmen einer Selbsthilfegruppe mit Cannabinoiden mit subjektiv guter Wirksamkeit.
Die Beklagte lehnte die Kostenübernahme mit Cannabinoiden ab (Bescheid vom 2. Juni 2017). Den Widerspruch des Klägers wies sie mit Widerspruchsbescheid vom 2. November 2017 zurück.
Der Kläger hat am 8. Dezember 2017 Klage zum Sozialgericht Berlin erhoben. Er sehe für sich keine weiteren Behandlungsmethoden, die behandelnde Ärzte sähen keine konventionellen Therapieansätze. Er sei derzeit arbeitsunfähig.
Den erneuten Antrag auf Versorgung mit Cannabis hat die Beklagte mit Bescheid vom 21. Dezember 2017, bestätigt mit Widerspruchsbescheid vom 16. Mai 2018, abgewiesen. Die dagegen erhobene Klage zum Sozialgericht Berlin (S 81 KR 1023/18) führte zur Verbindung der beiden Verfahren.
Das Sozialgericht hat Befundberichte der behandelnden Ärzte eingeholt
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Arzt/Ärztin |
Fachrichtung |
Gerichtsakte |
Dr. S |
Innere Medizin |
97 |
Dr. G |
Anästhesie |
99 |
Dr. G |
Innere |
109 |
Dr. J |
Schmerztherapie/ Anästhesie |
129 |
Dr. R |
NP |
142 |
Dr. K |
Orthopädie |
155 |
Das Sozialgericht hat zwei Sachverständigengutachten eingeholt: Am 12. November 2018 hat der Internist und Sozialmediziner Dr. W H sein Gutachten erstattet, am 5. Juli 2019 der Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. H.
Mit Gerichtsbescheid vom 11. Oktober 2019 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Der Kläger habe keinen Anspruch auf Versorgung mit Medizinal- Cannabis gemäß § 31 Abs. 6 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V). Versicherte mit einer schwerwiegenden Erkrankung hätten Anspruch auf Versorgung mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten in standardisierter Qualität und auf Versorgung mit Arzneimitteln mit den Wirkstoffen Dronabinol oder Nabilon, wenn
1. eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung
a) nicht zur Verfügung steht oder
b) im Einzelfall nach der begründeten Einschätzung der behandelnden Vertragsärztin oder des behandelnden Vertragsarztes unter Abwägung der zu erwartenden Nebenwirkungen und unter Berücksichtigung des Krankheitszustandes der oder des Versicherten nicht zur Anwendung kommen kann,
2. eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf oder auf schwerwiegende Symptome besteht.
Die Leistung bedürfe bei der ersten Verordnung für eine Versicherte oder einen Versicherten der nur in begründeten Ausnahmefällen abzulehnenden Genehmigung der Krankenkasse, die vor Beginn der Leistung zu erteilen ist. Diese Voraussetzungen seien nicht erfüllt. Der Kläger leide nicht an einer schwerwiegenden Erkrankung im Sinne der Regelung. Das Gesetz definiere den Begriff zwar nicht, er finde sich aber in zahlreichen Bestimmungen des SGB V. So definiere § 34 Abs. 1 Satz 2 SGB V i.V.m. § 12 Abs. 3 Arzneimittelrichtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses definiere eine Erkrankung als schwerwiegend, die lebensbedrohlich sei oder die aufgrund der Schwere der durch sie verursachten Gesundheitsstörung die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtige. Das entspreche der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zum Off-Label-Use bei schwerwiegenden Erkrankungen. Ein Off-Label-Use komme danach nur in Betracht, wenn es 1. um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung gehe, 2. keine andere Therapie verfügbar sei und 3. aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht bestehe, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg erzielt werden könne (kurativ oder palliativ). Diese Definition sei auf § 31 Abs. 6 Satz SGB V übertragbar. Die MDK-Gutachterin A sei zwar zu der Einschätzung gelangt, dass aufgrund der Multimorbidität und Chronifizierung im Fall des Klägers von e...