Entscheidungsstichwort (Thema)

Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für Ausländer ohne Aufenthaltsrecht oder bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. Unionsbürger. Aufenthaltsrecht aus familiären Gründen. Anwendbarkeit von § 11 Abs 1 S 11 Freizüg/EU 2004 aF iVm § 28 Abs 1 S 1 Nr 3 AufenthG 2004 und Art 18 Abs 1 AEUV auch auf den sorgeberechtigten Elternteil eines freizügigkeitsberechtigten minderjährigen Unionsbürgers. Schutz der Familie. Unzumutbarkeit eines Ausschlusses von der Erziehungsleistung der Eltern

 

Leitsatz (amtlich)

Einen Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 S 2 SGB II kann zugunsten einer Unionsbürgerin ein in entsprechender Anwendung von § 11 Abs 1 S 11 Freizüg/EU (juris: FreizügG/EU 2004) aF iVm § 28 Abs 1 S 1 Nr 3 AufenthG (juris: AufenthG 2004) und Art 18 Abs 1 AEUV bestehendes materielles Aufenthaltsrecht entgegenstehen, wenn ihrem minderjährigen freizügigkeitsberechtigten Kind mit Unionsstaatsbürgerschaft unter Berücksichtigung von dessen in Art 6 GG und Art 8 EMRK (juris: MRK) garantierten Grundrechten der Ausschluss von der Erziehungsleistung seiner leiblichen Eltern nicht zumutbar ist.

 

Tenor

Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 1. Dezember 2020 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Kläger auch im Berufungsverfahren.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Streitig ist die Gewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) für die Zeit vom 1. November 2018 bis zum 30. April 2019.

Der im Jahr 1997 geborene Kläger zu 1 sowie die im Jahr 2000 geborene Klägerin zu 2 (im Folgenden nur noch Klägerin) sind die Eltern des im September 2016 geborenen Klägers zu 3. Alle verfügen über die rumänische Staatsangehörigkeit. 2019 ist das weitere gemeinsame Kind der Kläger zu 1 und 2, L, geboren worden. Seit dem 2. Dezember 2019 sind die Kläger zu 1 und 2 verheiratet.

Die Kläger sind seit dem 22. Oktober 2018 in Berlin gemeldet (vgl. Meldebestätigungen vom 23. Oktober 2018). Zuvor waren der Kläger zu 1 und die Klägerin bereits 2014 (der Kläger zu 1) bzw. 2016 (der Kläger zu 1 und die Klägerin) in der Bundesrepublik kurzzeitig gemeldet. Sie waren im streitgegenständlichen Zeitraum bis zum 24. April 2019 wohnungslos und lebten aufgrund einer Zuweisung des Beigeladenen zusammen in einem Hostel in der Gstr. in B. Seitdem wohnen sie zusammen bei Verwandten unter der aus dem Rubrum ersichtlichen Adresse.

Der Kläger zu 1 nahm zum 1. November 2018 eine Beschäftigung bei der Firma G GmbH als Hilfskraft in den Bereichen Bauhilfsarbeiten / Baureinigung im Umfang von 10 Stunden wöchentlich auf (Arbeitsvertrag vom 1. November 2018; Einkommensbescheinigung des Arbeitgebers vom 4. Februar 2019). Sein monatliches Gehalt belief sich im streitigen Zeitraum auf 400,00 € brutto bzw. 392,00 € netto. Die Auszahlung erfolgte im Wege der Barleistung. Die Klägerin war hingegen nicht erwerbstätig. Für den Kläger zu 3 wurde ab November 2018 Kindergeld in Höhe von (i.H.v.) monatlich laufend 194,00 € gezahlt. Im November 2018 wurde darüber hinaus Kindergeld für den Monat Oktober 2018 i.H.v. 175,98 € nachgezahlt. Kindergeldberechtigt war der Kläger zu 1. Über weiteres Einkommen verfügten die Kläger ebenso wenig wie über Vermögen.

Am 19. November 2018 stellten die Kläger bei dem Beklagten einen Antrag auf Gewährung von Leistungen nach dem SGB II. Unterkunftskosten wurden weder damals noch nachfolgend geltend gemacht. Diesen Antrag lehnte der Beklagte zunächst mit Bescheid vom 11. Februar 2019 unter Verweis auf den Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II ab. Auf den Widerspruch der Kläger vom 6. März 2019 bewilligte der Beklagte den Klägern zu 1 und 3 mit Bescheid vom 21. März 2019 für die Zeit von 1. November 2018 bis zum 30. April 2019 Leistungen nach dem SGB II (nur Regelbedarf) unter Anrechnung von Einkommen in Gestalt von Kindergeld sowie bereinigtem Erwerbseinkommen des Klägers zu 1 i.H.v. monatlich 232,00 € wie folgt:

Monat 

Kläger zu 1

Kläger zu 2

November 2018

12,02 €

0 €     

Dezember 2018

167,41 €

20,59 €

Januar 2019

177,33 €

23,67 €

Februar 2019

177,33 €

23,67 €

März 2019

177,33 €

23,67 €

April 2019

177,33 €

23,67 €

Leistungen für die Klägerin lehnte der Beklagte weiterhin ab, weil diese ausschließlich über ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche verfüge.

Im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens vor dem Sozialgericht Berlin (SG) zu dem Aktenzeichen S 173 AS 2690/18 ER wurde der Beklagte durch Beschluss vom 8. April 2019 vorläufig verpflichtet, der Klägerin für die Zeit vom 15. März 2019 bis zum 31. Oktober 2019 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II i.H.v. monatlich 272,96 € (nur Regelbedarf), für März anteilig i.H.v. 145,58 €, zu zahlen. In Ausführung dieses Beschlusses sind von dem Beklagten auf das Konto des Klägers zu 1 für den Zeitraum 15. März 2019 bis zum 30. April 2019 418,54 € gezahlt worden (Gutschrift am 17. April 2019).

Mit Widerspruchsb...

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