Entscheidungsstichwort (Thema)
Arbeitslosengeld. Bemessungsentgelt. Bemessungszeitraum. Bemessungsrahmen. Elternzeit. Pauschalisierung. fiktive Bemessung wegen Mutterschutz- und Erziehungszeiten. Erweiterung des Bemessungszeitraums und -rahmens. Verfassungsmäßigkeit. Europarechtskonformität
Orientierungssatz
1. Auch wenn der Bemessungszeitraum im erweiterten Bemessungsrahmen (§ 130 Abs 3 SGB 3) durch Erziehungszeiten weniger als 150 Tage mit Anspruch auf Arbeitsentgelt enthält, ist eine Erweiterung des Bemessungsrahmens wegen Mutterschutz- bzw Erziehungszeiten in Anwendung des § 130 Abs 2 S 1 Nr 3 SGB 3 nicht möglich.
2. Es bestehen auch dann keine verfassungsrechtlichen Bedenken gegenüber dem Regelungskonzept der fiktiven Bemessung des Arbeitslosengeldes und den Qualifikationsgruppen gemäß § 132 SGB 3, wenn Mutterschutz- und Erziehungszeiten für die fiktive Bemessung mitursächlich sind.
3. Eine Verletzung des Art 4 Abs 1 EWGRL 7/79 liegt nicht vor.
Nachgehend
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 29. Mai 2006 aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin die Hälfte der außergerichtlichen Kosten des Verfahrens der ersten Instanz zu erstatten, im Übrigen sind außergerichtliche Kosten nicht zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist die Höhe des Arbeitslosengeldes.
Die 1966 geborene Klägerin hat zwei im Mai 2001 bzw. August 2002 geborene Kinder. Nach Erwerb eines Abschlusses an der Hotelfachschule Berlin als staatlich geprüfte Betriebswirtin (Hotel- und Gaststättengewerbe) am 20. Juni 1995 war sie ab März 1996 bei der A und S GmbH & Co als Gebietsleiterin tätig. Im Anschluss an den Bezug von Mutterschaftsgeld (8. April 2001 bis 26. Juli 2001) befand sie sich vom 27. Juli 2001 bis zum 15. August 2005 in Elternzeit. Erziehungsgeld erhielt sie vom 1. Juli 2001 bis 30. November 2001, vom 16. September 2002 bis zum 15. Februar 2003 und vom 22. Oktober 2003 bis zum 15. August 2004. Ab dem 16. August 2005 arbeitete sie wieder bei ihrem alten Arbeitgeber gegen ein monatliches Gehalt von 3.417,78 Euro. Das Arbeitsverhältnis wurde vom Arbeitgeber aus betriebsbedingten Gründen zum 30. November 2005 gekündigt.
Auf die am 20. Oktober 2005 mit Wirkung zum 1. Dezember 2005 erfolgte Arbeitslosmeldung gewährte die Beklagte durch Bescheid vom 19. Dezember 2005 der zu diesem Zeitpunkt dauernd getrennt lebenden Klägerin (Steuerklasse II) Arbeitslosengeld ab 1. Dezember 2005 für 360 Kalendertage mit einem täglichen Leistungsbetrag von 29,05 Euro auf der Grundlage eines täglichen Bemessungsentgeltes von 64,40 Euro. Die Klägerin legte Widerspruch ein und rügte eine falsche Berechnungsgrundlage. Die Elternzeit sei außer Betracht zu lassen. Da sie seit März 1996 ständig gearbeitet habe, müsse der Leistungsbetrag höher ausfallen. Die Beschränkung des Bemessungsrahmens auf zwei Jahre führe zu einer Verschlechterung der Lage von Eltern und Familien, da die Elternzeit üblicherweise drei Jahre betrage. Eine fiktive Berechnung des Einkommens sei regelmäßig ungünstiger.
Die Beklagte wies den Widerspruch zurück (Widerspruchsbescheid vom 10. Februar 2006, der Klägerin zugegangen am 14. Februar 2006). Zur Begründung legte sie zunächst dar, dass sich das Arbeitslosengeld als Prozentsatz des um pauschalierte Abzüge verminderten Bemessungsentgeltes berechne. Das Bemessungsentgelt ergebe sich aus dem durchschnittlichen auf einen Tag entfallenden Arbeitsentgelt, das im Bemessungszeitraum erzielt worden sei. Der Bemessungszeitraum müsse aber in einem Bemessungsrahmen von längstens zwei Jahren vor Entstehung des Anspruchs auf Arbeitslosengeld liegen und mindestens 150 Tage betragen. Ansonsten sei ein fiktives, nach Qualifikationsgruppen zu ermittelndes Arbeitsentgelt zuzuordnen. Die Klägerin habe in der Zeit vom 16. August 2005 bis 30. November 2005 an 107 Tagen ein beitragspflichtiges Entgelt von 13.304,05 Euro erzielt, woraus sich zwar ein durchschnittliches tägliches Entgelt von 124,34 Euro ergebe. Da in dem Bemessungsrahmen aber keine 150 Tage zurückgelegt worden seien, sei eine fiktive Einstufung mit einem Bemessungsentgelt von 64,40 Euro vorzunehmen gewesen.
Dagegen richtet sich die am 14. März 2006 bei dem Sozialgericht eingegangene Klage. In der mündlichen Verhandlung hat die Beklagte anerkannt, dass der Berechnung des an die Klägerin zu zahlenden Arbeitslosengeldes ein tägliches Bemessungsentgelt von 80,50 Euro zugrunde zu legen sei (Qualifikationsgruppe 2 statt bisher 3). Entsprechend hat sie der Klägerin durch Bescheid vom 14. August 2006 ab 1. Dezember 2005 Arbeitslosengeld in Höhe von 34,41 Euro täglich bewilligt, nachdem sie bereits vorher durch Bescheid vom 11. April 2006 Leistungen in gleicher Höhe ab 14. März 2006 bewilligt hatte.
Das Sozialgericht hat durch Urteil vom 29. Mai 2006 die angefochtenen Bescheide geändert und die Beklagte verurteilt, der Klägerin seit dem 1. Dezember 2005 Arbe...