Entscheidungsstichwort (Thema)
Off-label-use. Immunglobulin. Multiple Sklerose. Anspruch auf Versorgung mit einem Arzneimittel außerhalb des zugelassenen Anwendungsgebietes
Leitsatz (redaktionell)
1. Die Verordnung eines Arzneimittels außerhalb des zugelassenen Anwendungsgebietes zu Lasten der Krankenversicherung ist nur dann zulässig, wenn es um die Behandlung einer schwerwiegenden Erkrankung geht, keine andere Therapie verfügbar ist und aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg erzielt werden kann.
2. Die Wirkung intravenös zu verabreichender Immunglobuline bei schubförmiger Multipler Sklerose kann derzeit weder bestätigt noch widerlegt werden. Es fehlt nämlich eine kontrollierte Phase-3-Studie, auf die eine begründete Aussicht auf einen wirksamen Einsatz dieser Medikamentengruppe gestützt werden könnte.
3. Auch bei einer durch nahe Lebensgefahr gekennzeichneten individuellen Notlage liegt kein Verfassungsverstoß vor, wenn die Leistungspflicht der Krankenkasse mit der Begründung verneint wird, es lägen keine wissenschaftlichen Forschungsergebnisse vor, aus denen sich hinreichende Erfolgsaussichten für den begehrten off-label-use ableiten ließen.
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 13. Dezember 2004 aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin die Hälfte der außergerichtlichen Kosten des gesamten Verfahrens zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Versorgung mit dem zu den Immunglobulinen zählenden, intravenös (i.v.) zu verabreichenden Arzneimittel Octagam 10 g sowie Kostenerstattung.
Ausweislich der Fachinformation (Stand: Juli 2000) ist dieses Arzneimittel für folgende Anwendungsgebiete zugelassen:
Substitutionstherapie bei primären und sekundären Antikörpermangelzuständen sowie zur Vorbeugung und Behandlung von Infektionen, die bei diesen Krankheiten auftreten. Zusätzlich werden Immunglobuline auch zur Modulation und Kontrolle der individuellen Immunantwort verabreicht, zum Beispiel bei ITP.
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1. Primäre Antikörpermangelzustände: |
- Kongenitale Agammaglobulinämie und Hypogammaglobulinämie |
- Variables Immundefektsyndrom |
- Schweres kombiniertes Immundefektsyndrom |
- Wiskott-Aldrich Syndrom |
2. Idiopathische thrombozytopenische Purpura (ITP), insbesondere in akuten Fällen bei Kindern. |
3. Sekundäre Immunmangelkrankheiten unter folgenden Bedingungen: |
- Chronisch-lymphatische Leukämie (CLL) |
- Multiples Myelom |
4. Kongenitale HIV-Infektion bei Kindern mit rezidivierenden bakteriellen Infekten |
5. Kawasaki-Syndrom (in Verbindung mit einer Acetylsalicylsäure-Therapie) |
6. Allogene Knochenmarkstransplantation |
7. Guillain-Barré-Syndrom |
Die seit April 2008 maßgebliche Fachinformation (zugänglich unter https://portal.dimdi.de/amispb/doc/pei/Web/2604148-spcde-20080401.pdf) weicht hiervon in einzelnen, für den vorliegenden Rechtsstreit unerheblichen Formulierung ab.
Die 1962 geborene Klägerin leidet seit 1986 an einer schubförmig verlaufenden Form der Multiplen Sklerose (MS), chronischer, schubförmig verlaufender Polyarthritis mit Destruktion diverser großer und kleiner Gelenke, sowie einem Impingement-Syndrom beidseits, ferner an schweren rezidivierenden depressiven Episoden mit Borderline-Tendenz und Suizidversuch sowie dem Verdacht auf Neurodermitis. Auf Grund der Polyarthritis wurden ihr im Jahre 2000 beidseitig Hüfttotalendoprothesen implantiert.
Zur Behandlung der MS erhielt die Klägerin von April 1996 bis Oktober 1999 Glatirameracetat (Handelsname: Copaxone), was zu einer weiteren Verschlechterung des Gesundheitszustandes mit mehreren Schüben führte. Die Behandlung mit dem Wirkstoff Mitoxantron ab Dezember 1999 musste im Mai 2000 wegen Makrohämaturie bei Endometriose abgebrochen werden. Wegen chronischer Polyarthritis und Depressionen kommt der Einsatz von Interferon nicht in Betracht. Seit Juli 2000 wird der Klägerin intravenös Octagam 10 g ärztlich verabreicht. Unter der Behandlung mit Octagam traten nur selten - nach den Angaben der Klägerin in der mündlichen Verhandlung vom 18. Februar 2010 ungefähr ein Mal jährlich - MS-Schübe auf. Eine Cortisonstoßtherapie war nicht mehr erforderlich. Ab August 2001 trug die Klägerin hierfür die Kosten, die sie durch zahlreiche Rechnungen diverser Apotheken bzw. der Fa. O. Pharma Vertrieb von Plasmaderivaten GmbH aus dem Zeitraum 15. August 2001 bis 27. Juni 2003 belegt.
Den Antrag der Klägerin vom 24. August 2001 auf Kostenübernahme für das Arzneimittel Octagam 10 g lehnte die Beklagte mit Schreiben vom 14. September 2001, mit dem Bescheid vom 02. Januar 2002 und Widerspruchsbescheid vom 11. Juli 2002 ab. Das Sozialgericht hat während des Klageverfahrens Befundberichte von Dr. H vom 02. April 2003, des die Klägerin behandelnden Arztes für Neurologie B vom 05. Mai 2003 sowie das am 30. März 2004 dem Sozialgericht übersandte, undatierte Sachverständigengutachten des Facharztes fü...