Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Leistungsausschluss für Ausländer bei Aufenthalt zur Arbeitsuche. Unionsbürger. Freizügigkeitsrecht. tatsächliche Arbeitsuche. Europarechtskonformität
Leitsatz (amtlich)
1. Der Leistungsausschluss des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 2 setzt ein tatsächlich bestehendes und nicht nur mögliches Freizügigkeitsrecht voraus. Dieses verlangt eine tatsächliche und nicht nur fiktive Arbeitsuche. Wer nur zum Sozialleistungsmissbrauch eingereist ist, ist nicht vom Leistungsbezug nach dem SGB 2 ausgeschlossen.
2. Die Frage nach der Vereinbarkeit des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB 2 mit Unionsrecht stellt sich nur bei denjenigen Unionsbürgern, die ihr Aufenthaltsrecht ausschließlich aus der - tatsächlichen und nicht bloß behaupteten - Arbeitsuche herleiten, ohne bereits eine tatsächliche Verbindung zum deutschen Arbeitsmarkt hergestellt zu haben. Unter welchen Voraussetzungen diese tatsächliche Verbindung besteht, entscheiden nationale Behörden und Gerichte. Diese ist auf Dauer jedenfalls dann gegeben, wenn gem § 2 Abs 3 S 1 Nr 2 FreizügG/EU (juris: FreizügG/EU 2004) eine berufliche Tätigkeit länger als ein Jahr ausgeübt wurde.
3. Die Ausführungen des EuGH in der Rechtssache Dano und in der Rechtssache Vatsouras/Koupatantze sind dahingehend zu verstehen, dass Unionsbürger ohne ausreichende Existenzmittel mangels eines materiellen Aufenthaltsrechts von Sozialhilfeleistungen iS von Art 24 der Richtlinie 2004/38/EG (juris: EGRL 38/2004) und damit von SGB 2-Leistungen ausgeschlossen werden können (Dano), dass ihnen aber bei einem hinreichenden tatsächlichen Bezug zum deutschen Arbeitsmarkt finanzielle Leistungen zur Erleichterung des Zugangs zum Arbeitsmarkt zu gewähren sind (Vatsouras/Koupatantze).
Orientierungssatz
1. Zu Leitsatz 3 vergleiche EuGH vom 4.6.2009 - C-22/08 ua = SozR 4-6035 Art 39 Nr 5 und vom 11.11.2014 - C-333/13 = NJW 2015, 145.
2. Der (von der Bundesregierung am 19.12.2011 erklärte, am 31.1.2012 bekannt gemachte und am 3.4.2012 berichtigte) Vorbehalt gem Art 16 Buchst b EuFürsAbk gegen die Anwendung des SGB 2 im Rahmen des EuFürsAbk ist wirksam (Anschluss an BSG vom 12.12.2013 - B 4 AS 9/13 R = ZFSH/SGB 2014, 158).
Normenkette
SGB II § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2; FreizügG/EU § 2 Abs. 2 Nr. 1a, Abs. 3 S. 1 Nr. 2; FREIZÜGG/EU § 7; EuFürsAbk Art. 1, 16 Buchstabe b; EGRL 38/2004 Art. 14 Abs. 4 Buchstabe b, Art. 24 Abs. 1 S. 1, Abs. 2; VO (EG) 883/2004 Art. 70; AEUV Art. 45 Abs. 2; EGV Art. 39 Abs. 2
Nachgehend
Tenor
Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 8. Mai 2014 aufgehoben und die Klage abgewiesen.
Die Beteiligten haben einander keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Streitig zwischen den Beteiligten ist ein Anspruch des Klägers auf Grundsicherungsleistungen nach dem Zweiten Sozialgesetzbuch (SGB II) im Zeitraum September 2013 bis 21. März 2014.
Der im Jahr 1978 geborene Kläger ist spanischer Staatsangehöriger. Am 8. November 2011 meldete er sich unter der aus dem Rubrum ersichtlichen Adresse in B an. Ausweislich der Freizügigkeitsbescheinigung gemäß § 5 Freizügigkeitsgesetz/EU hielt er sich seit dem 22. Januar 2011 in der Bundesrepublik Deutschland auf.
Am 27. September 2013 stellte der Kläger bei dem Beklagten einen Antrag auf Bewilligung von Leistungen nach dem Zweiten Sozialgesetzbuch (SGB II). Zur Begründung führte er aus, er sei vor zwei Jahren von Spanien nach Berlin gezogen und habe bisher von Erspartem gelebt. Derzeit besuche er eine Schulung “Ankommen in Alltag und Beruf - Willkommenspaket für Fachkräfte„ des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge mit dem Ziel einer schnellen und gezielten Vermittlung in den Arbeitsmarkt. Bis jetzt habe er in Deutschland noch nicht gearbeitet. Über die Teilnahme an der vorgenannten Schulung in der Zeit vom 10. Juni 2013 bis 27. September 2013 mit insgesamt 450 Unterrichtsstunden legte er im Folgenden ein Zertifikat vor. Arbeit in Deutschland fand er dennoch nicht.
Für Kosten der Unterkunft wandte der Kläger im hier streitgegenständlichen Zeitraum 300 Euro monatlich auf, die er - ohne dass ein schriftlicher Mietvertrag existiert - an seinen Vermieter überwiesen hat. Hierzu legte er für die Monate November 2013 bis Februar 2014 Kontoauszüge vor, die vier entsprechende Zahlungen bestätigen. Weiterhin legte er zum Nachweis seiner Heizkosten eine auf den 7. November 2013 datierte Rechnung für eine Brikettlieferung über 168 Euro vor.
Den Leistungsantrag des Klägers lehnte der Beklage mit Bescheid vom 30. September 2013 ab. Ein Leistungsanspruch ergebe sich insbesondere nicht aus dem Europäischen Fürsorgeabkommen (EFA) vom 11. Dezember 1953, da die Bundesrepublik Deutschland insoweit einen Vorbehalt eingelegt habe, der auch wirksam sei.
Hiergegen legte der Kläger mit am 31. Oktober 2013 bei dem Beklagten eingegangenen Schreiben Widerspruch ein. Der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II se...