Entscheidungsstichwort (Thema)
Überlanges Gerichtsverfahren. unangemessene Verfahrensdauer. Entschädigungsklage. Angemessenheitsprüfung. grundsätzlich keine Beschränkung auf die vom Kläger geltend gemachten Verzögerungsmonate. unbezifferter Klageantrag. Mindestforderung. Bindung an den Klageantrag. Beschränkung der Entschädigung auf die geltend gemachte Anzahl an (Mindest-)Verzögerungsmonaten. keine wertmäßige Zuerkennung von darüber hinausgehenden Verzögerungsmonaten. Störung des Gerichtsbetriebs durch COVID-19-Pandemie. Phase gerichtlicher Inaktivität zwischen März und Mai 2020. Monate des 1. Corona-Lockdowns. keine dem Staat zurechenbare Verzögerungszeit. Prozesszinsen. Zinsbeginn. Streitwertfestsetzung
Leitsatz (amtlich)
1. Etwaige in der Zeit zwischen März und Mai 2020 aufgetretene Phasen der gerichtlichen Inaktivität stellen regelmäßig keine dem Staat zuzurechnenden Verzögerungszeiten dar (Anschluss an BFH vom 27.10.2021 - X K 5/20 = BFHE 274, 485 RdNr 34 ff). Für diesen Zeitraum ist regelmäßig davon auszugehen, dass Verzögerungen der Corona-Pandemie geschuldet sind, ohne dass sich dies unmittelbar den Akten entnehmen lassen muss. Dies gilt gleichermaßen für Verzögerungen, die im Sitzungsbetrieb aufgetreten sind, wie für solche im allgemeinen Geschäftsablauf.
2. Für Phasen der gerichtlichen Inaktivität ab Juni 2020 kann sich der Beklagte nicht mehr darauf berufen, dass diese auf Ursachen beruhen, die er weder beeinflussen kann noch sonst zu verantworten hat.
3. Das Entschädigungsgericht ist nicht gehindert, gerichtliche Inaktivität in Monaten anzunehmen, die ein Kläger selbst nicht als Verzögerungsmonate gerügt hat.
4. Die Entscheidung, welche konkreten Monate innerhalb einer Instanz zur Annahme unangemessener Verfahrensdauer führen, berührt lediglich ein Begründungs-/Berechnungselement, betrifft aber nicht den Klagegrund und ändert damit nicht den Streitgegenstand.
5. Hat ein Kläger sich im Hinblick auf die Regelung des § 198 Abs 2 S 3 GVG zulässigerweise darauf beschränkt, eine Mindestforderung geltend zu machen, steht es dem Entschädigungsgericht zwar frei, eine über der Mindestforderung liegende Entschädigung zuzusprechen, weil der gesetzlich vorgesehene Pauschalbetrag unzureichend erscheint. Nicht hingegen kann es eine höhere Entschädigung auf eine weitergehende als vom Kläger beklagte Verzögerung stützen (Anschluss an BFH vom 12.7.2017 - X K 3-7/16 = BFHE 259, 393 RdNr 48 ff und vom 29.11.2017 - X K 1/16 = BFHE 259, 499 RdNr 47).
6. Prozesszinsen sind in analoger Anwendung des § 187 Abs 1 BGB ab dem auf den Eintritt der Rechtskraft folgenden Tag zu zahlen.
7. Wird im Hinblick auf die Regelung des § 198 Abs 2 S 3 GVG eine Mindestforderung geltend gemacht, ist der Streitwert in Höhe der angegebenen Mindestforderung festzusetzen.
Nachgehend
Tenor
Der Beklagte wird verurteilt, dem Kläger wegen unangemessener Dauer des vor dem Sozialgericht B zuletzt unter dem Aktenzeichen S 201 AS 5133/18 WA geführten Verfahrens eine Entschädigung in Höhe weiterer 300,00 € zzgl. 5 % Zinsen über dem jeweiligen Basiszinssatz ab dem 18. Januar 2022 zu zahlen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Der Beklagte hat zwei Drittel, der Kläger ein Drittel der Kosten des Verfahrens zu tragen.
Die Revision wird zugelassen.
Der Streitwert wird endgültig auf 459,94 € festgesetzt.
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Zahlung einer weiteren Entschädigung in Höhe von noch mindestens 300,00 € zzgl. Zinsen wegen überlanger Dauer des vor dem Sozialgericht B zuletzt unter dem Aktenzeichen S 201 AS 5133/18 WA geführten Verfahrens. Dem abgeschlossenen Ausgangsverfahren lag folgender Sachverhalt zugrunde:
Am 30. November 2012 erhob der schon damals durch seinen jetzigen Bevollmächtigten vertretene Kläger Klage gegen das Jobcenter Berlin Friedrichshain-Kreuzberg (im Folgenden: JC) und begehrte im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens die Verurteilung des JC zur Gewährung von Arbeitslosengeld II für die erste Hälfte des Jahres 2012. Hintergrund hierfür war, dass das JC zunächst die Bewilligung von Leistungen nach dem Zweiten Sozialgesetzbuch (SGB II) mit der Begründung abgelehnt hatte, der über die griechische Staatsangehörigkeit verfügende Kläger habe allein zum Zwecke der Arbeitsuche ein Aufenthaltsrecht und sei daher vom Leistungsbezug ausgeschlossen. Schließlich hatte es eine erneute Überprüfung dieses Bescheides unter Hinweis darauf, dass keine neue rechtlich relevante Beurteilung und damit keine Änderung der Sach- und Rechtslage vorliege, abgelehnt. Zugleich beantragte der Kläger bei Gericht die Bewilligung von Prozesskostenhilfe.
Am 14. Dezember 2012 bestätigte das Sozialgericht den Eingang der Klage und forderte das JC zur Erwiderung und Aktenübersendung innerhalb eines Monats auf. Am 23. Januar 2013 ging die Klageerwiderung ein, die dem Bevollmächtigten zwei Tage später zur Stellungnahme innerhalb eines Monats zugeleitet wurde. Nachdem dieser am 12. Februar 2013 eine Erklärung des Klägers zu s...