Entscheidungsstichwort (Thema)
Ausschluss von Leistungen der Grundsicherung für einen EU-Ausländer bei fehlender Freizügigkeitsberechtigung - Anspruch auf Sozialhilfeleistungen bei Verfestigung des Aufenthalts
Orientierungssatz
1. Die generelle Freizügigkeitsvermutung für EU-Ausländer eröffnet weder einen Zugang zu Leistungen nach dem SGB 2 noch steht sie dem Ausschluss von Leistungen nach dem SGB 2 entgegen (BSG Urteil vom 21. 3. 2019, B 14 AS 31/18 R).
2. Dem Leistungsausschluss steht das Gleichbehandlungsgebot des Art. 1 des Europäischen Fürsorgeabkommens (EFA) nicht entgegen. Er ist auch mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG vereinbar.
3. Nach Ablauf des Aufenthalts eines EU-Ausländers von sechs Monaten tatsächlichen Aufenthalts in Deutschland, der von der Ausländerbehörde faktisch geduldet wurde, hat sich dieser so verfestigt, dass die Erbringung existenzsichernder Leistungen nur im Einzelfall nach Ermessen den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht mehr genügt. Liegt eine solche Verfestigung des Aufenthalts vor, so besteht aufgrund einer entsprechenden Ermessensreduzierung auf Null für den EU-Ausländer auf der Grundlage des § 23 Abs. 1 S. 3 SGB 12 Anspruch auf existenzsichernde Leistungen des SGB 12.
Tenor
Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 31. Juli 2018 geändert.
Der Beklagte wird unter Aufhebung des Ablehnungsbescheides vom 13. Januar 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. Februar 2014 und des Rücknahme- und Erstattungsbescheides vom 10. September 2014 sowie unter Änderung des Bescheides vom 3. März 2014 verurteilt, dem Kläger Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für die Zeit vom 17. Januar 2014 bis 31. Januar 2014 in Höhe von 195,50 € sowie weitere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in Höhe von 33,90 € für Februar 2014 zu gewähren.
Der Beigeladene wird verurteilt, dem Kläger Hilfe zum Lebensunterhalt für die Zeit vom 19. Dezember 2013 bis 31. Dezember 2013 in Höhe von 165,53 € und für die Zeit vom 1. Januar bis 16. Januar 2014 in Höhe von 208,53 € und für den Monat Mai 2014 in Höhe von 58,65 € zu gewähren.
Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
Der Beklagte und der Beigeladene haben dem Kläger je ein Drittel seiner außergerichtlichen Kosten im gesamten Verfahren zu erstatten.
Im Übrigen findet eine Kostenerstattung nicht statt.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Der 1989 geborene estnische Kläger begehrt Regelleistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts bzw. Hilfe zum Lebensunterhalt für die Zeit vom 1. Dezember 2013 bis 31. Mai 2014.
Der Kläger lebte bis Mitte 2011 in Finnland und hielt sich nach eigenen Angaben ab Juli 2011 in Deutschland auf. Im Zeitraum vom 1. Oktober 2011 bis 1. November 2012 war der Kläger unter der Anschrift Hstraße, B, gemeldet. Am 21. Februar 2012 erhielt er in Berlin eine Freizügigkeitsbescheinigung gemäß § 5 Freizügigkeitsgesetz/EU in der bis 28. Januar 2013 geltenden Fassung (FreizügG/EU aF). Das Jobcenter Berlin Tempelhof-Schöneberg gewährte ihm aufgrund des Beschlusses des Landessozialgerichts (LSG) Berlin-Brandenburg vom 25. Juli 2012 - L 10 AS 1723/12 B ER - vorläufig Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch- Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) - für die Zeit vom 15. Juli 2012 bis 31. Dezember 2012. Im Zeitraum vom 15. April 2013 bis 23. Dezember 2014 war der Kläger unter der Anschrift N Straße (bei M S), B, gemeldet. In der 32, 59 qm umfassenden Wohnung des M S waren von April 2013 bis Dezember 2014 insgesamt 5 bzw. 6 Personen gemeldet.
Vom 26. September 2013 bis 17. Oktober 2013 war er in S L (Département Rhône; Frankreich) als Erntehelfer abhängig beschäftigt und kehrte anschließend nach Deutschland zurück. Vom 12. November 2013 bis 4. Dezember 2013 hielt er sich in R auf. Am 19. Dezember 2013 stellte er einen Antrag auf Leistungen nach dem SGB II, welcher mit Bescheid des Beklagten vom 13. Januar 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. Februar 2014 unter Hinweis auf den Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 2 SGB II abgelehnt wurde. Anlässlich einer Vorsprache beim Beklagten erklärte er am 2. Januar 2014, er lebe seit zwei Jahren in Deutschland und halte sich immer bei verschiedenen Freunden und Bekannten auf. Die N Straße sei lediglich seine Postadresse. Seinen Lebensunterhalt habe er durch Geld bestritten, das er sich von Freunden geliehen habe.
Vom 17. Januar 2014 bis 31. März 2014 befand sich der Kläger in einer geringfügig entlohnten Beschäftigung bei der in M ansässigen C GmbH (C). Das Bruttoarbeitsentgelt, das jeweils am Monatsende des Folgemonats gezahlt wurde, betrug laut Bescheinigung der Arbeitgeberin vom 25. August 2014 für Januar 2014 225,- € (netto 216,22 €), für Februar 2014 310,15 € (netto 298,05 €) und für März 2014 143,- € (netto 131,37 €). Das Sozialgericht (SG) Berlin verpflichtete den Beklagten im Wege der einstweiligen Anordnung mit Beschluss vom 26. Februar 2014 - S 168 AS 2795/14 ER -, dem Kläger vorläufig für d...